Feldwege aus der Luft betrachtet

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Am Wendepunkt - Wenn das Leben die Richtung ändert

Die Ö1 Sendereihe "Hörbilder" lässt Menschen zu Wort kommen, die von Wendepunkten erzählen, die ihr Leben nachhaltig geprägt haben. In der ersten Staffel waren unter andrem Nicola Werdenigg zu hören, die über (Macht)missbrauch im Spitzensport berichtete und Anton Sutterlüty, der erzählte, wie er durch einen Millionengewinn zu seiner Berufung gefunden hat.

Die zweite Staffel eröffnen am 15. März 2025 der Tschetschene Ahmad Mitaev, der als IS-Krieger in Syrien kämpfen wollte und sich heute als TikTok-Star für Integration einsetzt und die Schwestern Wanda und Daniela, die der Armut und Perspektivlosigkeit in Polen den Rücken kehren und in Wieselburg ein vollkommen neues Leben starten

Kreuzung zweier Feldweg

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"Ich war die erste Ausländerin," sagt Daniela und setzt sich kurz an einen der Tische im Kaffeehaus. Ihre Schicht ist gleich zu Ende, dann hat sie Zeit, von früher zu erzählen: Davon, wie sie 1992 als damals 18-Jährige mit ihrer Schwester Wanda den Bauernhof der Eltern in Polen verließ und der Perspektivlosigkeit den Rücken kehrte; von ihrer Ankunft im Mostviertel, ihren ersten Diensten hier in der Konditorei, von Sprachbarrieren, Aufenthaltsanträgen und Wanderungen am Ötscher. "Wir haben Glück gehabt, uns hat jemand die Hand gereicht, und wir haben was daraus gemacht", meint die 50-Jährige rückblickend.

Diese Hand kam von Josef Kastenhofer, Spitzname "Kasti". Der pensionierte Tischler, damals 64 Jahre alt und verwitwet, hatte Platz im Haus. Er nahm die Mädchen bei sich auf und wurde ihnen zum Vater - erst in emotionaler Hinsicht, dann ganz offiziell durch eine Erwachsenenadoption. Mit dieser Entscheidung verhalf er nicht nur dem Leben der polnischen Schwestern, sondern auch seiner eigenen Geschichte zu einer positiven Wende.

Wanda und Daniela waren im Polen der 1980er groß geworden, ihre Kindheit spielte sich auf Himbeerplantagen und Getreidefeldern ab. Ein paar Kühe lieferten Milch, der Acker wurde mit dem Pferd bestellt. Sonntags wurde ein Huhn geschlachtet und von Zeit zu Zeit auch einmal ein Schwein, dessen Fleisch und Schmalz die Mutter in Gläsern konservierte, um über die Wintermonate zu kommen. Die Jahre waren geprägt von dem schwelenden Aufstand gegen das kommunistische Regime - und als der Vorhang dann fiel, blieb der Aufschwung vorerst aus. Dem Familienbetrieb ging es wie vielen: Wie auf einer Überholspur rauschte die Modernisierung an ihnen vorbei, als klein strukturierter Betrieb blieben sie auf der Strecke. Vor allem in ländlichen Regionen Polens lebten damals weite Teile der Bevölkerung weiterhin in Armut.

Wanda war es, die beschloss, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen - und das ihrer jüngeren Schwester gleich dazu. Sie nahm Kontakt zu einer Tante auf, die in Österreich lebte, und leitete mit ihrer Hilfe die eigene Auswanderung ein.

Wanda Fasching, Josef Kastenhofer und Daniela Haubenberger

privat

Einen Sommer und viele Zusatzschichten auf fremden Höfen später saßen Wanda und Daniela eines Morgens auf dem roten Traktor ihres Vaters, der sie zur nächsten Bushaltestelle brachte. Ihr Ziel: Wieselburg an der Erlauf, eine Gemeinde im ländlichen Niederösterreich. Das Gepäck der Mädchen bestand aus einer gemeinsamen Sporttasche, und "die war sogar nicht voll", erinnert sich Wanda: Unterhosen, T-Shirts und, auf dem Boden der Tasche versteckt, Zigaretten. Außerdem: Zwei frisch ausgestellte Reisepässe. Wanda und Daniela waren die Ersten im Dorf, die welche besaßen.
Mehr als 30 Jahre sind seit jenem Septembermorgen vergangen. Dass die Schwestern in Niederösterreich geblieben sind, ist auf eine Reihe von "Puzzleteilen" zurückzuführen, wie es Daniela beschreibt – vor allem aber auf das Engagement von Kasti. "Für mich war er ein Vaterersatz", sagt Wanda. "Er hat mir gezeigt, was Liebe und Geborgenheit bedeuten."

"Am Wendepunkt" reist zurück in das Polen der 1980er Jahre und erzählt eine Geschichte, die von Mut, Großherzigkeit und der Wiedererlangung menschlicher Würde handelt.

Text: Miriam Steiner