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Zweite Republik
Wie Österreich neu formiert wurde
Der Zweite Weltkrieg ist erst 80 Jahre her. Viele Menschen, die rund um das Jahr 1945 Babys oder Kinder waren, haben zwar selbst kaum oder wenige Erinnerungen an die schwierige Zeit nach dem Krieg. Doch alle sind aufgewachsen mit oftmals traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. Vieles wurde lange totgeschwiegen und gleichzeitig doch über Generationen weitergegeben.
4. März 2025, 18:09
Ö1 lädt dazu ein, diesen Erfahrungsschatz, der in jeder Familiengeschichte steckt, zu bergen und zu teilen. Sie können auf dieser Erinnerungsplattform kurze Videos, Audios, Texte und Bilder hochladen und dazu beitragen, dass sich das kollektive Gedächtnis über diese Zeit erweitert, mit Geschichten wie dieser:
"Meine Mutter lebte im Mostviertel, in der sowjetischen Zone. ihre Eltern hatten ein Wirtshaus, viel war nicht da, trotzdem hatten sie immer einen Stapel Groschen bereit. Es sind so viele Bettler gekommen und sie haben so lang was gegeben, so lang was da war. Und auch wenn sie das Gasthaus hatten, manchmal war nicht genug zu essen da. Dann ist die Mutter meiner Mutter mit dem Fahrrad zu den Bauern der Umgebung gefahren und hat selbst um Brot gebettelt. Manche haben ihr etwas gegeben, andere nur die verschimmelten Reste."
Nationbuilding
Wie Menschen sich an ihre Vergangenheit erinnern, ihre Erinnerungen weitergeben und damit eine gemeinsame Identität formen, ist ein dynamischer Prozess. Genauso wie das Nationbuilding, das in einem zweiwöchigen Radiokolleg Spezial beleuchtet wird. "Wie Österreich neu formiert wurde" spannt im April 2025 in sechs Folgen den Bogen von den Gründungsmythen rund um die Zweite Republik, dem Internationalisierungsschub durch die Präsenz der vier Alliierten, der Wiederaufbauzeit als "heroische Phase" bis zum österreichischen Weg mit Marshall-Plan, Sozialpartnerschaft sowie dem Aufbau einer Konsensdemokratie.
Abgrenzung von Deutschland
Ein netter, harmloser Kleinstaat im Herzen Europas - dialogorientiert, neutral und mit allen gut Freund: In dieser Rolle sah sich Österreich nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 am liebsten. Zentral in der nationalen Selbstvergewisserung Österreichs nach 1945 war vor allem die Abgrenzung von den „Piefkes“. Die Verantwortung für den Nationalsozialismus überließ man gern den nördlichen Nachbarn.
Epochenwandel
In den 1980er Jahren gerät mit der „Affäre Waldheim“ das Bild Österreichs als Opfer des Nationalsozialismus ins Wanken. Die Vergangenheitsbewältigung, die Frage nach der Bedeutung der Neutralität nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und der Beitritt zur EU 1995: Wie mit diesen Identitätsbrüchen umgegangen wird, das beschäftigt Österreich bis heute.
Eine Erfolgsgeschichte
So unterschiedlich die Gegebenheiten zwischen dem Bodensee im Westen und dem Neusiedlersee im Osten sein mögen, einige Entwicklungen prägen ganz Österreich: Der Wandel zur Migrationsgesellschaft, auch innerösterreichisch, die Überalterung, das Stadt-Land-Gefälle. Damit gehen gesellschaftspolitische Fragen einher, allen voran jene, wer wir heute sind und sein wollen.
In einer aktuellen Studie über die Geschichtsbilder zur Zweiten Republik stimmen rund acht von zehn Befragten „sehr“ zu, dass es gut ist, „dass Österreich 1945 eine demokratische Republik wurde“. Rund 9 von 10 sehen Österreich als „Land mit hoher Lebensqualität“. Zweifel daran, ob Österreich als eigenständiger, kleiner Staat funktionieren wird können, sind längst vergangen. So gesehen, ist das österreichische Nationbuilding ein Erfolg, bleibt aber auch ein fortlaufender Prozess.
Text: Ina Zwerger und Ute Maurnböck, Ö1 Radiokolleg