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Neue Musik auf der Couch
Pierre Boulez: "Structures I"
"Structures I" für zwei Klaviere kann als eines der grundlegenden Werke des Serialismus betrachtet werden.
5. März 2025, 11:17
Besonders der erste der drei Teile, "Structure Ia", "ist besonders geeignet zur Darstellung der Konstruktionsprinzipien, wie sie im Frühstadium der seriellen Musik angewendet wurden. Da diese Komposition sehr durchschaubar gearbeitet ist, enthüllt sie von selbst ihre Anatomie. So ist sie als 'Schulbeispiel' analysierbar." Diese Sätze stammen von György Ligeti, der in einer Analyse mit dem bezeichnenden Titel "Entscheidung und Automatik in der Structure I a von Pierre Boulez" Einblicke in die Machart dieses frühen Werks seines französischen Kollegen gewährt. Vereinfachend teilt Ligeti den Kompositionsprozess im Falle einer seriellen Komposition wie "Structure Ia" in drei Schritte ein.
Zunächst werden Entscheidungen gefällt: "Entscheidung I: 1. Auswahl der Elemente. 2. Wahl der Anordnung dieser Elemente. 3. Auswahl der mit diesen Anordnungen auszuführenden weiteren Operationen (Anordnungen von Anordnungen und gegenseitige Beziehungen der einzelnen Anordnungen untereinander)." Im Falle von "Structure Ia" bedeutet dies konkret die Auswahl der Zwölftonreihe, die von Olivier Messiaen übernommen wird. Wie in der Zwölftontechnik werden auch hier durch Spiegelverfahren drei weitere Versionen abgeleitet: Krebs, Umkehrung und Krebsumkehrung. Jede dieser vier Versionen kann auf jedem der zwölf chromatischen Töne erklingen, folglich ergeben sich 48 Varianten. Die Darstellung der zwölf Töne der Varianten auf den zwölf chromatischen Tönen der Skala führt zu Zahlenmatrizen mit 144 Feldern: zwölf mal zwölf.
Die Grundidee des Serialismus, nämlich den Reihengedanken von den Tonhöhen abzulösen, und diesen auch auf andere Parameter zu übertragen, führt zu Tondauernreihen, die dieselbe Zahlenanordnungen aufweisen, wie die Tonhöhenreihen. Ein diagonales Durchschreiten der Zahlenmatrizen führt zu jeweils vier Anordnungen für Lautstärken und vier Anordnungen für Anschlagsarten.
Nicht nur die lokale Ebene wird in "Structure Ia" durch Zahlenreihen bestimmt, sondern auch die globale Ebene, also die "Anordnungen von Anordnungen", wie es bei Ligeti heißt. So spielt zum Beispiel das Klavier I zunächst die Grundreihe zwölfmal hintereinander auf allen zwölf chromatischen Tönen. Die Anfangstöne der zwölf Reihendurchgänge ergeben die Umkehrung der Reihe. Auf lokaler Ebene wird folglich im Klavier I die Anordnung von der Grundreihe, auf globaler Ebene allerdings die Anordnung der Grundreihen durch die Umkehrung bestimmt.
Der zweite Schritt im Kompositionsprozess heißt laut Ligeti "Automatik: Elemente und Operationen, einmal ausgewählt, werden wie in eine Maschine geworfen, um automatisch - aufgrund der gewählten Beziehungen - zu Strukturen gewoben zu werden." Sind einmal Entscheidungen über die Anordnungen gefällt, dann ergibt sich, salopp gesagt, das meiste von selbst.
Das meiste, aber - in den Worten von Ligeti - nicht alles: "Entscheidung II: Die automatisch gewonnene Struktur ist einigermaßen roh, man muß sie weiter verarbeiten, und zwar mit Entscheidungen in den maschinell nicht verwendeten Dimensionen." Zwei dieser Entscheidungen betreffen die Dichte der Komposition sowie die konkrete Oktavlage der einzelnen Tonhöhen, oder Tonqualitäten, wie Ligeti sie nennt.
Die Dichte wird bestimmt durch die Anzahl der Reihenfäden, die gleichzeitig abgespult werden: Die geringste Dichte besteht aus einem einzigen Reihenfaden; in dem Fall pausiert eines der beiden Klaviere. Die höchste Dichte besteht aus sechs gleichzeitig ablaufenden Reihenfäden. Im Falle der Oktavlage wird die Freiheit eingeschränkt durch ein Vermächtnis der Zwölftontechnik betreffend die Tonwiederholung. In den Augen bzw. Ohren von Zwölftonkomponistinnen und -komponisten galt eine direkte Tonwiederholung in derselben Oktavlage weniger als Wiederholung, sondern als Verlängerung ein und desselben Tones. Eine Wiederholung in einer anderen Oktavlage ist aber nicht mehr als Verlängerung wahrnehmbar, sondern nur als Wiederholung des gleichen Tones in zwei unterschiedlichen Oktavlagen: Der Ton bekommt dadurch ein unerwünschtes Gewicht und erzeugt für kurze Zeit das Gefühl eines Tonzentrums: etwas, das in der Zwölftontechnik mehr oder weniger rigoros vermieden wurde.
In einem Gleichnis beschreibt Ligeti eine Möglichkeit der Wahrnehmung dieser Art der Komposition: "Unter der Lupe betrachtet, tritt eher der Aspekt des Determinierten, Regelmäßigen hervor. Aus der Entfernung aber zeigt sich die Struktur - als Ergebnis vieler gesonderter Regelmäßigkeiten - als etwas höchst Variables und Zufälliges, dem An- und Ausblitzen des Neonlichtnetzes einer Großstadtstraße vergleichbar: Die einzelnen Lichtkörper werden zwar von einem Apparat genau gesteuert, diese separat aufflammenden und verlöschenden Lichter aber bündeln sich zu einem statistischen Komplex."
Tritt man einen Schritt zurück, bzw. verlagert man den Fokus von der lokalen auf die globale Ebene, wird man mit größeren Zusammenhängen belohnt: "In größerer Entfernung verschwimmen die Lichtkomplexe zu einer noch höheren Einheit, die wieder auf eigene Weise sinnvoll wird - so auch die Struktur dieser Musik beim mehrmaligen Anhören." Als hörende Person wird man belohnt mit "Schönheit im Auftun von reinen Strukturen."
Text: Thomas Wally