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Ö1 Schwerpunkt
Zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez
„Man muss seine Revolution nicht nur konstruieren, sondern auch träumen“ - so poetische Worte hätten Pierre Boulez manche gar nicht zugetraut, die in ihm nur den unermüdlichen, vielleicht sogar unerbittlichen Vorkämpfer des Neuen sahen.
21. März 2025, 15:22
Sendungsüberblick
Es stimmt schon: Boulez war als Komponist gleichsam die lebende Begründung dafür, dass der Begriff Avantgarde in der Musik eine konkrete Bedeutung besaß, dass er aus dem Französischen stammt - und zugleich aus der Militärsprache. Keiner seiner engsten Darmstädter Mitstreiter - weder der zunehmend esoterisch denkende Karlheinz Stockhausen noch der prononciert politische Künstler Luigi Nono - nahm es mit der Rolle der kämpferischen Vorhut gegen künstlerische Altlasten aller Art so ernst wie Pierre Boulez.
Dabei schreckte der Sprachgewaltige auch vor scharfzüngig strengen, ja gewaltsam anmutenden Worten keineswegs zurück, um schließlich wesentlich konzilianter, in der Sache aber nicht weniger bestimmt zu formulieren. „Zwei Vokabeln fehlten ihm: Ehrfurcht und Verehrung“, erinnerte sich Olivier Messiaen einmal an seinen einstigen Schüler, der nicht nur mit einem ausgeprägten Faible für Mathematik begabt war, sondern auch mit einem unbestechlichen äußeren wie inneren Ohr, welches Sprache und Musik mit der gleichen analytisch untermauerten Hingabe erlauschen und voraushören konnte.

Pierre Boulez, 1969
AP
Berechnete Schönheit, gefühlter Verstand
Gerade Hauptwerke wie Le marteau sans maître nach René Char oder das suggestive, die zugrundeliegende Lyrik musikalisch zerstäubende Mallarmé- (und zugleich Selbst-)Porträt Pli selon pli, zeugen von Boulez’ leidenschaftlicher Liaison mit dem Dichterwort. Er wollte Musik schaffen, in der sich Intellekt und Emotion gleichermaßen mitteilten, sozusagen die Schönheit berechnet und der Verstand gefühlt werden konnten.
Dabei war er Perfektionist. Nicht einer, der sich von seinen eigenen exorbitanten Ansprüchen lähmen ließ, sondern einer, der immer weiter an seinen Stücken feilen musste, bis er mit dem Ergebnis zufrieden sein konnte. In mehreren Durchgängen heizte er einmal angestoßene Entwicklungen weiter an, beobachtete sie von anderen Seiten, gab den Eruptionen mehr und anderen Raum, schrieb sie verändert nieder. In ganzen Werkfamilien entfaltet sich dadurch ein und dasselbe Material immer weiter und auf teils ungeahnte, immer komplexere Weise.
Struktur war eines seiner Lieblingswörter
Am Glauben an eine persönliche Schöpferkraft hielt Boulez fest, selbst dann noch, als er den kreativen Schock verdaut hatte, den John Cage mit seinen Zufallsoperationen bei ihm ausgelöst hatte. Fortan durften aleatorische Techniken in begrenztem, aber immer durch kreativen Willen kontrolliertem Ausmaß in seiner Musik walten, später erweiterte die Live-Elektronik (entwickelt am von ihm initiierten Pariser Forschungszentrum IRCAM) das Farbenspektrum und eröffneten Raumklangwerke neue Horizonte.
Auch als Dirigent interessierte sich Boulez nur für die Neuerer unter den Komponisten, erreichte seine präzis formulierten Ziele ohne sezierenden Taktstock, ohne publikumswirksame Show. Struktur war eines seiner Lieblingswörter, gerade auch bei langen Stücken verabscheute er jedes Schleppen: als Versicherung, den geistigen Überblick behalten zu können, sich nicht in einem noch so schönen Detail zu verlieren. Seine späte, zweite Karriere als Pultstar hat ihn nochmals in alle großen Musikmetropolen geführt.
2016 ist Pierre Boulez in Baden-Baden verstorben. Am 26. März wäre er 100 Jahre alt geworden. Ö1 lauscht aufs Neue der enigmatischen Schönheit und der kristallinen Transparenz seiner Musik und seines Musizierens.
Text: Walter Weidringer