Gipfelgrat

RUPERT HAUER

Passagen

Mit Höhenangst auf den Mount Everest

Über Risiken, Tragödien und Triumphe am höchsten Berg der Erde sowie die Kommerzialisierung des Bergriesen lassen sich Bände füllen. Den 8.848 Meter hohen Giganten zu besteigen, hat Menschen aller Nationen schon lange gereizt. Der Osttiroler Alpinist und Ö1 Marketingchef Michael Ladstätter hat den Mount Everest erfolgreich bestiegen.

"Weil er da ist." So soll die Antwort des britischen Bergsteigers George Mallory auf die Frage gelautet haben, warum er unbedingt auf den Mount Everest steigen wolle. Der Rest ist Alpingeschichte: Die Leiche von Mallory wurde erst 1999 in einer Höhe von 8.150 Metern entdeckt, 75 Jahre nach seinem letzten Versuch, als erster Mensch den höchsten Berg der Welt zu erklimmen.

Südsattel, Mount Everest

Südsattel des Mount Everest

MICHAEL LADSTÄTTER

Ob er es tatsächlich auf den Gipfel geschafft hat oder bereits im Aufstieg verstorben ist, ist bis heute ungeklärt. Zuletzt lebend gesehen wurden Mallory und sein Begleiter Andrew Irvine von ihrem Expeditionskollegen Noel Odell am 8. Juni 1924 in einer Höhe von ca. 8.500 Metern am Nordostgrat, bevor sie für immer im Nebel verschwanden.

Leitertraining im Basislager

JOCHEN GREINER

Leitertraining im Basislager

Ein Jugendtraum

Seit meinen Jugendtagen lässt mich Chomolungma, wie der Everest vom Volk der Sherpas genannt wird, nicht mehr los. Fernsehdokumentationen über Himalaja-Expeditionen, Bücher und Vorträge von Legenden wie Reinhold Messner, Oswald Oelz und Gerlinde Kaltenbrunner, aber auch Jon Krakauers gruseliger Bestseller In eisige Höhen über das Unglück im Jahr 1996 befeuern meine Fantasie.

Den Gedanken, einmal selbst auf dem höchsten Punkt des Planeten zu stehen und von dort die Erdkrümmung zu sehen, wagte ich jedoch nicht einmal auszusprechen, zu kühn, geradezu unerhört erschien er mir. In der Realität begnügte ich mich vorerst mit den Bergen meiner Osttiroler Heimat, für einen Hobby-Bergsteiger mit Höhenangst fordernd genug.

Hinter den sieben Bergen

Im Sommer 2008 quäle ich mich auf den Gipfel des Kilimandscharo, das Dach Afrikas, auf knapp 6.000 Metern. Mir ist elend zumute, der Kopf brummt und der Magen rebelliert. Der Gipfel ist in Wolken gehüllt, die Sicht gleich null. Meine Sonnenbrille ist vereist, und ich friere in meinen zwei Fleecejacken. Afrika im August hatte ich mir freundlicher vorgestellt, von Gipfelglück keine Spur.

Erst im Abstieg kommt langsam die Freude über das Erreichte, wie so häufig beim Höhenbergsteigen. Bergführer Herbert gratuliert mir zum ersten von "Seven Summits", den jeweils höchsten Bergen aller Kontinente. Von dieser Gipfelsammlung höre ich da zum ersten Mal, denke aber nicht im Traum daran, mich abermals solchen Höhen- und Höllenqualen auszusetzen.

Zurück in Europa verblasst das Gipfelleid vom Kilimandscharo zunehmend, die Qualen weichen der nachträglichen Verklärung. Neugierig beginne ich, mich über die restlichen Six Summits zu informieren und beschließe, mich vielleicht doch noch an dem einen oder anderen zu versuchen, mal sehen, wie weit ich komme.

Acht Jahre später, im Mai 2016, stehe ich in Alaska auf dem Gipfel des Denali, des "kältesten Bergs der Welt", und meinem sechsten von Seven Summits. Ein unvergessliches Erlebnis, wie schon in den Jahren zuvor in den entlegensten Ecken des Planeten: im Kaukasus, in den Anden, in der Antarktis und im Dschungel Westpapuas. Hier könnte man selbstzufrieden einen Punkt setzen und sich bis an das Lebensende an den Erinnerungen erfreuen.

Anflug auf das Basislager des Mount Everest

Soll ich? Oder soll ich nicht?

Doch einer fehlt noch. Nur noch einer. Der Höchste. Es beginnen Jahre des Zweifelns. Soll ich? Oder soll ich nicht? Eine erste eindeutige Antwort folgt auf dem Fuß: Ella und Florine, meine Zwillingstöchter, kommen zur Welt. Der Gedanke, sich in die Todeszone zu begeben und eine junge Familie zurückzulassen, erscheint mir verantwortungslos. Doch im Schatten der Vernunft wachsen der Berg und die Sehnsucht danach ins Unermessliche.

Michael Ladstätter und Nima Sherpa

NIMA TEMBA SHERPA

Michael Ladstätter und Nima Sherpa auf dem Gipfel des Mount Everest.

Bis mein Cousin Gery unerwartet mit 52 Jahren zu Hause verstirbt. Gery war Bergfex durch und durch, seit früher Jugend in den schwierigsten Klettergraden und Dolomitenwänden unterwegs. Bei seinem Begräbnis schwöre ich mir, von nun an nichts mehr aufzuschieben. Ich beginne, das Leben von dessen Ende aus zu betrachten, und möchte mir auf dem Sterbebett nicht den Vorwurf machen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Meine Freundin Daniela ermutigt mich, den Schritt zu wagen.

Nach 16 Jahren voller Zweifel, Träume und Trainingseinheiten ist es im Frühjahr 2024 so weit. Am Abend vor meiner Abreise übergebe ich Daniela ein versiegeltes Kuvert samt Notfallkontakten, Testament und Abschiedsbrief für meine Töchter. Nur für den Fall des Falles. Am nächsten Tag, fast genau 100 Jahre nach Mallorys Verschwinden, mache ich mich auf den Weg Richtung Tibet, um mir auf seinen Spuren meinen Lebenstraum zu verwirklichen.

Text: Michael Ladstätter