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Du holde Kunst
Andrea Eckert Gedichte über den Wind
Am besten könnte wohl eine Kreatur wie der Mauersegler über das Wesen des Winds Auskunft geben. Dieser Vogel, der im Luftmeer über uns lebt und schläft, dessen Strömungen nutzt, um den aus feuchten Regionen hochgetragenen und vertragenen Insektenwolken nachzujagen wie ein Raubfisch einem Sardinenschwarm, duldet nur beim Brüten Boden unter seinen verkümmerten Füßen. Mit ausgebreiteten Schwingen, getragen von einem Luftpolster im Himmel dahintreibend zu schlafen - was für eine Vorstellung!
13. Juni 2025, 14:14
Sendung hören
Du holde Kunst | 15 06 2025
Dem an die feste Erde gebundenen Menschen (nehmen wir einmal die Luftfahrtpioniere und Segelsetzer aller Art aus) begegnet der Wind als ein rätselhaftes, unbeherrschbares Element - ein ergiebiger Stoff für die Dichtung. Die durchweht er in vielerlei Gestalt und trägt die großen Motive der Epochen mit sich.

ORF/JOSEPH SCHIMMER
Der Wind als Auslöscher
Wenn er bei Nikolaus Lenau grausam dem Auswanderer das Abschiedswort der Geliebten verweht, zeigt sich der Wind als Auslöscher, den man als Macht der Umstände im beengten Leben des Vormärz politisch lesen kann, oder metaphysisch, als Hauch der Ewigkeit, der gleichgültig über die temporären Schicksale der Menschen hinweggeht. Wo immer man sie ansiedelt, bei Lenau wird diese Macht zum persönlichen Widersacher.
Der Wind und die Liebe
Ein anderer Dichter des Biedermeier, Eduard Mörike, vergleicht das Wesen des Winds mit dem der Liebe. In seinem Lied vom Winde erscheinen beide als unstete Bewegung, die vieles wahrnimmt, aber nichts begreift, am wenigsten sich selbst. Wobei dem Wind im Dialog mit einer Liebenden eine Stimme gegeben wird, die Stimme eines unzuverlässigen Boten.
"Gibt den Festgewachsenen fliehende Gebärden"
Ganz anders verbindet die 1935 geborene Sarah Kirsch die beiden Himmelsmächte: Hier zeigt sich eine jubelnde Verliebtheit als Rückenwind. Seine Geschwindigkeit wird in „fünfundzwanzig Windsbräuten in der Sekunde“ gemessen, eine Maßeinheit, die auch ein Bedrohungsmoment enthält, werden die Windsbräute doch zu den Harpyien gezählt.
Mit dem Blick des Malers nähert sich der Impressionist Max Dauthendey dem Himmelsphänomen. Gleichzeitig bewegt und bewegend, verwandelt die Luft die Gestalt des Festen, gleicht sie ihrem eigenen Wesen an, wenn es in dem Gedicht "Der ewige Wanderer, der Wind" heißt: „Und gibt den Festgewachsenen fliehende Gebärden“.
Der Wind und die Freiheit
Wenn der Wind in der Dichtung zur Freiheitsmetapher wird, tut es kein sanftes Lüftchen mehr. Im Sturm und Drang noch die geistige Revolte gegen die Gefühlsarmut der Aufklärung, wird die Sturm-Metapher in den Revolutionsdichtungen des 19. Jahrhunderts politisch aufgeladen. Als militärisches Vokabel verkehrt sie sich schließlich in ihr Gegenteil - nirgends büßt der Mensch seine Freiheit umfassender ein als in der Uniform.
Johannes Bobrowski, ein Kind des 20. Jahrhunderts, befragt den Wind in Sachen Freiheit. Die kann dieser sich nicht nehmen, sie folgt entweder einem Gesetz oder „verwirft“ ihn als „Schicksal stündlich“.
Die DDR-Dissidentin Helga M. Novak verleiht dem Treiben des Winds einen Doppelsinn. Schon der Titel "was für ein Wind" kann als Ausruf oder als Frage gelesen werden. Das Gedicht selbst beschreibt Natur, gespickt allerdings mit Folterverben. Vom „Zerreißen“, „Ausleiern“, „Haut abziehen“ ist hier die Rede.
Nächtlicher Wind
Aus gänzlich verschiedenen Richtungen kommt der Wind bei Heinz Piontek und Christine Lavant. „Die Stadt fiel lichterschwenkend in meine Hand“ heißt es bei Piontek über den nächtlichen Westwind, der um ein betrunkenes Paar weht; „hinter dem Rücken des Hirns, am Zusammenkunftsort aller Aufmerksamkeiten“ schreibt Lavant, „wacht und erweckt mich der Föhn“.
In dem letzten Gedicht der Sendung beruhigt sich die Wetterlage. Stefan Zweig lässt den knabenhaft tobenden Wind sanft „im weichen Mutterschoß“ der Nacht einschlafen. Erst in Stille und Geborgenheit lösen sich die Träume.