
BOR DOBRIN
Neue Musik auf der Couch
Nina Senk: "Concerto for Orchestra"
"Als Geschenk für die Orchestermusiker:innen" bezeichnet die slowenische Komponistin Nina Senk ihr "Concerto for Orchestra", welches der Entwicklungslinie des sogenannten "Konzerts für Orchester" ein gewichtiges neues Werk hinzufügt.
9. September 2025, 11:34
Zwar gilt Paul Hindemith als der erste Komponist, der die Idee eines Konzerts auf den gesamten Orchesterapparat überträgt, es sind aber die beiden Komponisten Bartók und Lutosławksi, die Senk zurückblickend erwähnt: "Ich wollte immer schon, seit ich 20 Jahre alt bin, ein Konzert für Orchester schreiben. Ich bin aufgewachsen mit Luloslawksi und mit Bartók, ich liebe dieses Genre. In diesem Sinn ist meine Komposition wirklich ein Konzert für Orchester: absolute Musik, ein Konzert, virtuos."
Ein wichtiger Punkt bei der Komposition dieses Werkes war für Senk die Rolle des einzelnen Musikers, oder besser: seine Rolle und auch das Sich-Bewusstsein der eigenen Rolle. "Das 'Orchesterkonzert' basiert auf bestehenden Konzerten, sodass die virtuose und ausdrucksstarke Rolle der:des Solist:in vom gesamten Orchester übernommen wird. Allen gemeinsam ist eine agile und schnell wechselnde Funktion im musikalischen Moment: Die Rollen der Einzelnen wechseln schnell (solistisch, kammermusikalisch, Begleitung, Kontrapunkt usw.) und verlangen von jeder:jedem Interpret:in, dass sie:er sich der eigenen Funktion (und der Partner:innen) in der komplexen Klangfülle jederzeit voll bewusst ist."
Fünf Sätze umfasst das "Concerto for Orchestra", wobei diese fünf Sätze als Entitäten nicht leicht fasslich sind, sondern meist aus mehreren, auch kontrastierenden Ideen bestehen. Ganz am Beginn des "Concerto for Orchestra" steht eine Art Ouvertüre, so die Komponistin: "Ich starte oft damit, das Gesamtbild zu präsentieren, und zerlege es danach Schritt für Schritt in kleinere, überschaubare Bausteine." Im Falle des Beginns des "Concerto for Orchestra" bedeutet das, dass zunächst ein wilder Beginn zu hören ist, in dem die verschiedenen Elemente durcheinanderzurauschen scheinen. Dieser wilde Beginn beruhigt sich bald, es folgt ein Abbau der Wildheit, bis schließlich kammermusikalische Reduktion erreicht wird.
Im zweiten Satz wechselt sich ein fein ausziselierter Klangteppich mit schwarmartigen Bewegungen ab. An einer bestimmten Stelle münden diese schwarmartigen Bewegungen in einen Tritonus, d-as: Ein Intervall, dass neben der kleinen Sekund und der großen Sept in Senks Musik eine wichtige Rolle spielt; oft in Kombination mit reinen Quarten / Quinten.
Im dritten Satz wird ein Element etabliert, das heutzutage in zeitgenössischer Musik nicht so oft anzutreffen ist, nämlich ein klares thematisches Gebilde. Eingeführt wird diese Idee zu Beginn zwischen Akzentklängen: Orchesterschläge, zwischen denen sich Melodiöses entfaltet. Ganz abstrakt kann hier von Hart-Vertikalem gesprochen werden, zwischen dem sich Weich-Lineares entwickelt; eine Satzart, die im gesamten Konzert mehrfach vorkommt. Auch dieser dritte Satz enthält eine zweite Hauptidee, diese ist von einer rasenden Bewegung in den Streichern geprägt, die sich beständig nach oben zu schrauben scheint.
Der vierte Satz ist als insgesamt ruhiger Satz der einheitlichste. Wenn weiter oben von eher dominierenden dissonanten Klängen die Rede war, soll hier als Gegensatz die Harmonik des fein gestalteten Streicherteppichs erwähnt werden. Die Hauptfarbe dieses Klanges entsteht durch eine Subdominante mit sixte ajoutée (bzw. durch einen halbverminderten Klang) in Mittellage: H-gis-fis'-d''. In Terzschichtung betrachtet also: gis-h-d-fis. Diese Terzschichtung wird nun durch a-cis-e nach oben erweitert, allerdings dergestalt, dass sich das cis'' noch innerhalb der Obergrenze des Hauptklanges einfügt, das a'' und das e''' quasi in der Höhe auf den Klang gesetzt werden. Dadurch sind es zwei Quinten übereinander, nämlich d''-a''-e''', die dem Klang in der Oberstruktur eine ganz bestimmte Farbe verleihen.
Dieser gesamte Klang wird aber nun durch das Fundament B' gestört: ein zwar vielschichtiger, aber doch recht eindeutig analysierbarer Klang enthält nun eine Basis, die quasi den gesamten Klang zu hinterfragen scheint. Hierzu die Komponistin: "Das ist eine Art Trick: Der tiefste Ton wirkt wie eine rauere, quasi schmutzige Grundlage. Die Idee dahinter ist, den Gesamtklang bewusst etwas zu verunreinigen. Besonders am Klavier lässt sich damit spielen: In der rechten Hand erklingt ein Akkord, während die linke Hand einen zusätzlichen Ton beisteuert, der den Klang verändert und ihm diese dunklere Basis verleiht."
Es folgt ein im Grunde dreiteiliger fünfte Schlusssatz. Der Einleitungsteil ist geprägt von jener Art von Musik, die man ganz allgemein als das Zusammenspiel von vertikalem Impuls versus Horizontalität beschrieben habe. In einem wilden Mittelteil ist wieder jene Musik anzutreffen, die von einem rasenden Aufwärtsstreben gekennzeichnet ist. Den Abschluss des fünften Satzes und somit des ganzen "Concerto" bildet ein ruhiger Schlussteil.
Immer wieder tauchen bereits etablierte Ideen auf, es gibt eine Reihe von Zusammenhalt stiftenden Querverweisen. Ein solcher klanglich besonders prägnanter Querverweis besteht aus abwärts glissandierenden künstlichen Flageolett-Glissandi. Auch wenn Senk ihr Konzert als absolute Musik bezeichnet, so ist hier zumindest die klangliche Ähnlichkeit zu einer bestimmten semantischen Ebene, nämlich zu Möwenschreien, auffallend.
Senks "Concerto for Orchestra", ein Auftragswerk der Konzertreihe "musica viva" des Bayerischen Rundfunks, erhielt seine Uraufführung am 7. Februar 2020 im Herkulessaal München. Es spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.
Text: Thomas Wally