Gérard Grisey

GUY VIVIEN

Gérard Grisey: "Partiels"

Im Jahr 2025 feiert "Partiels" sein 50-Jahr-Jubiläum: Eine Komposition, die zu den Hauptwerken des Spektralismus' bzw. der "musique spectrale" zählt.

Wird Spektralismus in der Regel als "Komponieren mit Teiltönen" betrachtet, so hebt interessanterweise Gérard Grisey in dem Aufsatz "Vous avez dit spectral?" einen anderen Aspekt hervor: "Für mich hat die Spektralmusik einen zeitlichen Ursprung". Und tatsächlich schreibt Grisey ausführlich über Zeit, über Prozesse in der Zeit, und auch einiges über Phänomenologie. Wie so oft in der Musikgeschichte wird eine neue Ästhetik auch als Abgrenzung von Vergangenem beschrieben:

"Die Musiker des 20. Jahrhunderts haben, wie übrigens auch die des 14. und 15. Jahrhunderts, mancherlei Spekulationen über die Dauer angestellt. Sie haben Proportionen auf die Zeit angewendet, die denen entsprechen, welche in den räumlichen Künsten zu finden sind: Primzahlen (Olivier Messiaen), goldener Schnitt (Béla Bartók), Fibonacci-Reihe (Karlheinz Stockhausen), Newtonsches Binom (Jean-Claude Risset), und sodann stochastische Verfahren: die Kinetische Gastheorie (Iannis Xenakis). So nützlich sie als Operationsmodus sein mögen, bleiben derartige Spekulationen doch stets jenseits des Klangphänomens, wie es wahrgenommen wird. Sie sind absurd geworden, sobald unsere Vorgänger schließlich die Landkarte mit der Landschaft verwechselten." So der Komponist Gérard Grisey in seinem berühmten Aufsatz "Tempus ex machina. Reflexionen über die musikalische Zeit".

Im schon erwähnten Artikel "Vous avez dit spectral?" plädiert Grisey für eine neue Form der zeitlichen Gestaltung: "Was nun radikal anders ist in der musique spectrale, das ist die Haltung des Komponisten gegenüber dem Bündel an Kräften, die den Klang ausmachen und gegenüber der Zeit, die für ihr Erscheinen notwendig ist. Seit ihren Anfängen wurde sie charakterisiert durch ihre hypnotische Langsamkeit, ihre regelrechte Versessenheit hinsichtlich von Kontinuität, Schwelle, Übergang und dynamischen Formen. Sie stellt sich radikal gegen einen Formalismus, der sich weigert, die Zeit und Entropie als die eigentlichen Fundamente aller musikalischen Dimensionen zu inkludieren. (…) Sie integriert die Zeit nicht mehr wie eine äußerliche Größe, welche auf ein Klangmaterial, das als außerhalb der Zeit betrachtet wird, angewandt wird, sondern wie ein konstitutives Element des Klanges selbst."

Zu Beginn des Werkes wird, quasi in zeitlupenartiger Vergrößerung, das Entstehen eines Klanges, nämlich der Ton E samt seinen Teiltönen (in erster Linie die ungeradzahligen Teiltöne bis inklusive Teilton Nr. 21) komponiert. Aus dem akzentuierten E erwächst in der Zeit das Teiltonspektrum, der Ein- und Ausschwingvorgang wird hörbar: Der Klang an sich wird zur Musik. In "Tempus ex machina" bringt Grisey diese Idee auf folgende Formel: "Das Klangobjekt ist ein zusammengezogener Prozeß, der Prozeß ist ein ausgedehntes Klangobjekt. Die Zeit ist gleichsam die Atmosphäre, welche diese beiden lebendigen Organismen in verschiedenen Höhenlagen atmen."

In insgesamt 13 Stationen wird dieser Ein- und Ausschwingvorgang nun im Sinne einer "schwebenden Periodizität" immer wieder aufs Neue präsentiert. Allerdings wird nicht einfach dasselbe wiederholt, sondern von Mal zu Mal gibt es wie in einem Stille-Post-Spiel Abweichungen, kleine Veränderungen. Grisey selbst sagt hierzu: "Wenn wir nicht nur den Klang einbeziehen, sondern überdies die Unterschiede zwischen den Klängen, zeigt sich als wahres Material des Komponisten das Ausmaß der Voraussehbarkeit, besser 'das Ausmaß der Voraushörbarkeit'." Insgesamt nimmt die Inharmonizität des Spektrums zu, die einzelnen Komponenten des Klanges sind also nicht nur mehr einfach ganzzahlige Vielfache des Grundtons, sie entwickeln ein Eigenleben.

Grisey: "Es ging darum, periodische Ereignisse zu komponieren, die um eine Konstante herum leicht fluktuieren, in Analogie zu unserem Herzschlag, unserem Atem und unserem Gehen." Womit ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen wäre: Das sogenannte Biomorphe bei Grisey, also Strukturen, die an biologischen Prozessen orientiert sind. So spricht Grisey in der Werkeinführung zu "Partiels" davon, wie die "zyklische Form der menschlichen Atmung" eine Rolle spielt: "Einatmung - Ausatmung - Ruhe" , oder anders gesagt: "Anspannung (...) - Entspannung - Wiederherstellung der Energie".

Die "synthèse instrumentale", also die Übertragung des Mikrobereichs (=Teiltonspektrum) auf den Makrobereich der Musik ist nicht die einzige von physikalischen Phänomenen inspirierte Kompositionsweise. Im zweiten Formabschnitt des insgesamt siebenteiligen Werkes arbeitet Grisey mit Kombinationstönen; eine wichtige Rolle spielen hier jene Differenztöne, die sich als Differenz zweier Frequenzen berechnen lassen. Insgesamt gibt es in dieser Passage drei Schichten: Zwei Primärtöne, oder Zeugungstöne oder "sons générateurs", wie Grisey selbst sagt, generieren einen bestimmten Differenzton. Zusätzlich sind noch äußerst leise Töne präsent, die sich aus dem Teiltonspektrum der ersten beiden Ebenen heraus erklären lassen.

In insgesamt sieben am Atemzyklus orientieren Passagen wird mehrfach der Weg von Harmonizität zu Inharmonizität, also von Klang zu Geräusch und umgekehrt, beschritten. Als Ruhepunkt dient immer wieder das E-Spektrum. Gegen Ende mündet dieser Prozess in einem auskomponierten Geräuschteil, der performative Aspekte beinhaltet, wie das Zusammenpacken und Zusammenklappen von Instrumentenkoffern. Zum Abschluss holt der Percussionist / die Percussionistin, quasi mit zwei Becken bewaffnet, extrem langsam, mysteriös und feierlich zu einem Beckenschlag aus - und verweilt schließlich in dieser Position.

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