Gedanken für den Tag

"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht" von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Lesen eröffnet fiktive Bilder, von denen aus die sogenannte Realität in einem anderen Licht erscheint und genauer zu sehen ist. Lesen ist ein Ort, wo jede und jeder zu sich selbst kommt und spielerisch einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann. Lesen, die "Lust am Text" (Roland Barthes), ist ein Lebensmotor, der auch dann seine Energien entfalten kann, wenn das Leben außerhalb der Bücher trist und brüchig ist. Lesen kann auch ein religiöser Akt sein - nach jüdisch-christlicher Überzeugung offenbart sich Gott in Literatur - in der Bibel. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Solange mich neue, mir unbekannte Menschen interessieren und solange ich mir noch Bücher zum Lesen vornehme, fühle ich mich lebendig. Aber natürlich ist die Zeit immer zu wenig - für die Menschen wie für die Bücher. Und erst recht der Platz auf den Regalen... Es gibt ja nicht nur ständig neue Bücher, sondern auch viele Klassiker, die ich noch nicht gelesen habe. Um Lew Tolstoi, der heute vor 100 Jahren gestorben ist, habe ich regelrecht einen Bogen gemacht. Realistische Romane von weit über 1000 Seiten - dafür fehlte mir in jüngeren Jahren die Geduld. Aber jetzt sind "Krieg und Frieden" sowie "Anna Karenina" in viel beachteten Neuübersetzungen erschienen - vielleicht ist das meine Chance, sie endlich zu lesen.

In den letzten Monaten hat mir ein Arbeitsprojekt eine Lese-Erfahrung besonderer Art ermöglicht: Ich stöberte in litauischen Bibliotheken Briefe, Aufzeichnungen und Tagebücher von Autoren auf, die nach dem Krieg für einige Jahre nach Österreich geflüchtet waren. In schön gebundenen Heften oder auf vergilbten Papierschnipseln, die oft kaum jemand vor mir gelesen hatte, war ich den Autoren näher als beim Lesen ihrer Biografie oder beim Betrachten ihrer Schreibmaschinen und Kleidungsstücke in einem Literaturmuseum. Und eine Erfahrung hat mich immer wieder verblüfft. Ich konnte ihre Handschrift bisweilen leichter entziffern als meine eigene. Da habe ich begeisterter Computer-Schreiber begriffen, was wir verloren haben, seit wir kaum mehr mit der Hand schreiben und Handschriften lesen, weil sogar die Briefe vom Email-Verkehr verdrängt wurden.

Voller Neugier warte ich darauf, beim nächsten Vilnius-Aufenthalt in diesen Handschriften weiterlesen zu können. Aber vorher warten noch einige Bücher auf mich. Und vielleicht habe ich ja endlich einmal den Mut, ein Gespräch anstatt mit harmlosen Floskeln von der Art "Wie geht's?" mit jener Frage beginnen, die die englische Queen in Alan Bennetts wunderbarem Buch "Die souveräne Leserin" stellt: "Was lesen Sie denn gerade?"

Service

Buch, Leo Tolstoi, Anna Karenina, Hanser Verlag
Buch, Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, 2 Bände, Hanser Verlag
Buch, Alan Bennet, Die souveräne Leserin, Verlag Klaus Wagenbach

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe