Gedanken für den Tag
"Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah - zum 90. Geburtstag von Paul Celan" von Lydia Koelle
24. November 2010, 06:57
Lydia Koelle ist Juniorprofessorin für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.
Paul Celan hat seine Gedichte einmal als Geschenke an die Aufmerksamen bezeichnet. Sie sind ein verzweifeltes Gespräch, ausgerichtet auf einen ebenso realen wie utopischen Gesprächspartner. 1920 als Paul Antschel und Sohn jüdischer Eltern, die in der Shoah ermordet wurden, in der Bukowina geboren, gilt Paul Celan als einer der bedeutendsten Lyriker der Nachkriegszeit.
Die theologische Begegnung mit Celan führt fast zwangsläufig zur Theodizeefrage und zum Problem des Gottesverständnisses nach Auschwitz, denn die Vernichtung der Juden durch die Nazis ist das historische Datum, von dem Celans Dichtung sich herschreibt. Die deutsche Theologin Lydia Koelle will aus dem Werk Celans nicht einfach eine theologische Theorie herausdestillieren, aber die Traditionen benennen, in denen Celan in der Auseinandersetzung mit den religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum seinen geistigen Standpunkt bestimmt.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer
Auf Sand gebaut waren die Gedichte, die Paul Celan 1948 in einem Wiener Verlag veröffentlichte, aus "Sand aus den Urnen" (GW 3/11-27), wie er seinen ersten Gedichtband nannte. Zermahlen wie der Leib Israels, zu Asche verbrannt, zu Staub zerfallen. Zum Sediment geworden beschwört er wie im späten Gedicht "Die fleißigen" (GW 2/151) den Bodensatz der Geschichte und die Ablagerungen im kollektiven Gedächtnis, die unbewältigte Trauer, die in der aufstrebenden Nachkriegsgesellschaft versandete - "Mohn" statt "Gedächtnis", um den Titel eines späteren Gedichtbandes "Mohn und Gedächtnis" (GW 3/31-64) aufzugreifen.
In dem Gedicht "Die fleißigen" heißt es:
Die fleissigen
Bodenschätze, häuslich,
die geheizte Synkope
das nicht zu enträtselnde
Halljahr,
die vollverglasten
Spinnen-Altäre im alles-
überragenden Flachbau,
die Zwischenlaute
(noch immer?),
die Schattenpalaver,
die Ängste, eisgerecht,
flugklar,
der barock ummantelte,
spracheschluckende Duschraum,
semantisch durchleuchtet,
die unbeschriebene Wand
einer Stehzelle:
hier
leb dich
querdurch, ohne Uhr.
Der Wien im Dezember 1947 erreichte, war ein rumänischer Flüchtling, ein Entwurzelter und Heimatloser, ein Jude, der aus dem "slawischen Osten" kam. Trotz kurzer Verweildauer fand Celan in Wien viele literarische Freunde und Förderer und nicht zuletzt eine Liebesbeziehung zu Ingeborg Bachmann. Doch er verließ den deutschen Sprachraum, um nach Paris zu gehen. Von dort schrieb er am 2. August 1948 in einem Brief an Verwandte in Israel: "Vielleicht bin ich einer der Letzten, die das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben müssen (...). Damit ist vielleicht einiges gesagt." Aber was sagte er damit?
In einer Zeit des Vergessens, der Amnesie, insistierte ein junger, unbekannter Dichter auf das Gedächtnis an die Toten des Holocaust und auf den Dialog mit ihnen. Celan schrieb im Bewusstsein seiner Zeugenschaft und im Bewusstsein des Zeugnischarakters seiner Dichtung. Dabei war ihm klar, dass sein Schreiben gegen eine Kultur des Verdrängens im Lunapark des Vergessens und der Leugnung historischer Tatsachen arbeitete. Sein Gedicht "Aschenglorie" (GW 2/72) endet mit den Zeilen: "Niemand / zeugt für den / Zeugen." Paul Celan findet hier Worte für die Befürchtung, die auch die Zeugen der Vernichtung beherrschte, womöglich die Letzten zu sein, die noch erzählen können, wie "es" gewesen ist.
Service
Buch, Jean Bollack, Paul Celan. Poetik der Fremdheit, Wien 2000
Zeitschrift, Bianca Rosenthal, Quellen zum frühen Paul Celan. Der Alfred Markul-Sperber-Nachlaß in Bukarest. In: Texte zum frühen Celan. Bukarester Celan-Kolloquium 1982. Zeitschrift für Kulturaustausch 3 (1982)
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