Gedanken für den Tag

"Über das Wunder der Seele" - Zum 750. Geburtstag von Meister Eckhart. Von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Umstritten in seiner Zeit, ist Meister Eckhart bis heute eine der kreativsten und faszinierendsten Gestalten des Christentums. Er wurde als Mystiker und Freigeist verstanden, war Dominikanermönch und wurde als Häretiker verurteilt. Als Philosoph und Theologe nahm er an den intellektuellen Debatten von Paris am Ende des 13. Jahrhunderts teil, als Mönch und Prediger zeigte er neue Wege zur Selbsterkenntnis und zu einer Lebensführung, in deren Mittelpunkt die Gelassenheit, das Loslassen steht. Für diejenigen, die Meister Eckhart lesen, mag er einen subjektiven Zugang zum Göttlichen und zum "Wunder der Seele" vermitteln. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Noch immer wundere ich mich, dass ich auf die Schriften Meister Eckharts nicht schon viel früher gestoßen bin und dass es dazu das Jahr seines 750. Geburtstags gebraucht hat. Denn von Arthur Schopenhauer bis in die unmittelbare Gegenwart hat Meister Eckhart intensive Spuren bei Denkern und Künstlern hinterlassen. Nur in der katholischen Kirche ist er kaum zur Wirkung gekommen, da am Ende seines Lebens einige seiner Sätze als häretisch verurteilt worden sind.

Eine Eckhart-Formulierung geht mir allerdings schon lange durch den Kopf: Ledig allen Gebets - ich wusste nur nicht, dass sie von Eckhart stammt. Mir ist sie zuerst in einem Gedicht von Paul Celan begegnet, dem allerletzten Gedicht des Bandes "Schneepart", der vor 40 Jahren, in Celans Todesjahr 1970, erschienen ist.

durchgründet vom Nichts,
ledig allen
Gebets,
...
nehm ich dich auf,
statt aller
Ruhe

heißt es in diesem Gedicht. Jetzt habe ich die Originalstelle in Eckharts berühmten Traktat "Von der Abgeschiedenheit" gefunden. Wobei Eckhart mit diesem für ihn zentralen Wort Abgeschiedenheit meint, dass der Mensch frei ist von sich selbst und von allen Dingen. Eckhart schreibt:

Abgeschiedene Lauterkeit kann nicht beten, denn wer betet, der begehrt etwas von Gott, das ihm zuteil werden solle, oder aber begehrt, daß ihm Gott etwas abnehme. Nun begehrt das abgeschiedene Herz gar nichts, es hat auch gar nichts, dessen es gerne ledig wäre. Deshalb steht es ledig allen Gebets, und sein Gebet ist nichts anderes, als einförmig zu sein mit Gott. Das macht sein ganzes Gebet aus.

Alles los zu werden, auch das Gebet, um aufnahmefähig zu werden für Gott - ein kühner Gedanke Eckharts. Paul Celan hat die Formulierung ledig allen Gebets in sein Gedicht aufgenommen und auf die Beziehung zu einem Menschen angewendet - jenem Du, dem die Anfangszeilen des Gedichts gelten:

WIRK NICHT VORAUS,
sende nicht aus,
steh
herein

Das sind Bilder jener Eckhardtschen Gelassenheit, die es auch braucht, um sich einem Menschen öffnen zu können.

Service

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 101218 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

weiteren Inhalt einblenden