Gedanken für den Tag

6. Juli 2011, 06:56

Der Himmel ist der Himmel - was sonst? - mit Wolkentupfern drauf. Wenn man aber Philosoph ist, kann es durchaus vorkommen, dass man am Frühstückstisch - mit Blick auf den Himmel - beginnt, über die "Transzendenz des Ego" nachzudenken. Oder beim Warten auf Frau und Tochter vor einem Modegeschäft beim samstäglichen Einkaufsbummel taucht plötzlich die Frage nach Sein oder Nichts auf.

Peter Strasser ist Professor am Institut für Rechtsphilosophie der Karl-Franzens-Universität in Graz und beschäftigt sich in seiner Arbeit unter anderem mit den philosophischen Grundlagen der Kriminologie und der praktischen Ethik sowie der Religionsphilosophie. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Platons Frühlingswiese
Ich sitze in meinem Dienstzimmer vor einem Packen Wiederholungsklausuren. Es geht um Platons Höhlengleichnis. Und wieder einmal ertappe ich mich bei der Frage: Glaubte der Philosoph wirklich, was er seine Zuhörerschaft glauben machen wollte? Glaubte Platon daran, dass die vielgestaltige Welt der Sinne nichts weiter als eine Art Höhle sei, in der wir, die Gemeinsterblichen, unser ganzes Leben lang ausharren müssen? Glaubte der Philosoph allen Ernstes, dass es wirklichkeitsnäher und beseligender sei, die Idee einer Frühlingswiese in Gedanken zu erfassen, statt die Frühlingswiese in ihrer frischen Pracht, ihrer bunten, summenden, duftenden Zartheit zu erleben? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Meine Studenten offenbar schon. Doch während ich ihre Antworten lese, habe ich das Gefühl, einer Kulissenschieberei beizuwohnen: "Jawohl, die meisten von uns sind blind, fast blind, denn sie sehen nicht, dass die bunte Frühlingswiese bloß ein fahler Schatten ist, der kaum eine Ahnung vom herrlichen Licht der Ideen und ihrer abstrakten Wahrheit vermittelt." Das schreiben meine Studenten, ohne sich zu fragen, wie schlecht es jemandem gehen muss, der so etwas behauptet.
Was beunruhigt Platon derart, dass er in der blühenden Frühlingswiese nichts sehen will als eine lichtlose Illusion im Kerker der Körperwelt? Wenn meine Studenten - zu zwei Dritteln Studentinnen - daran nichts Beunruhigendes entdecken, dann wohl deshalb, weil sie das, was ihnen der Philosoph eröffnet, nicht ernst nehmen: Es nicht nehmen als eine Doktrin, die ihr Leben von Grund auf ändern sollte. Und das beschämt mich. Ich muss als Lehrer wohl irgendetwas falsch gemacht haben.

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