Gedanken für den Tag

von Guido Tartarotti. "Sommerliche Atempause"

Natürlich entlässt einen der Alltag im Sommer nicht automatisch aus seinen Fängen - nur weil draußen vielleicht die Sonne scheint. Und die Arbeit kann man im Normalfall auch nur für maximal ein paar Wochen ruhen lassen. Man ist ja schließlich kein Schulkind mehr. Und doch: Der Sommer bietet da und dort die Gelegenheit, Abstand vom Gewohnten zu nehmen, Unterbrechungen zuzulassen und sich auch die Zeit zu nehmen, tiefer zu gehen und sich ein bisschen damit zu beschäftigen, was einem wirklich wichtig ist - vielleicht sogar Fragen, die nicht nur diese Welt betreffen, zuzulassen.

Guido Tartarotti ist von Beruf Journalist. Abends treibt er sich, wie er selbst sagt, oft auf Bühnen herum: als Kabarettist. Nach dem Überraschungserfolg von "Über Leben - Escape From Meerschweinchenkäfig" hat er sein zweites Programm "Daneben" der kabarettistischen Auseinandersetzung mit den absurden Seiten des Journalismus gewidmet. Und wenn Tartarotti "ganz besonders unvorsichtig gelaunt" ist, tritt er zudem als Sänger und Gitarrist seiner Band NOW auf. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Es ist Sommer, und das bedeutet, wir müssen über den Schnurrbart des Todes reden.
Als ich ein Kind war, trugen alle Männer Schnurrbart. Ärzte, Popstars, Fleischhauer, Lehrer, Onkel, Polizisten, Bankräuber, Fußballer sowieso, sogar die Priester. Selbst meine Großtante Luise trug Schnurrbart.
Im Laufe der Jahre gingen den Männern die Gesichtshaare aus, und heute tragen nicht einmal mehr die Fußballer Schnurrbart. Sie bekommen ja auch nach dem Karriereende keine Bäuche, Tankstellen und Alkoholprobleme mehr. Auf Fußballer ist kein Verlass mehr, aber das ist eine andere Geschichte.
Heute tragen nur noch Verfassungsjuristen mit einer gewissen Neigung zur Exzentrik Schnurrbart, außerdem Burgschauspieler, die für die Rolle des Hitler proben, und meine Großtante Luise.
Und natürlich die Bademeister, wie der Herr Manfred. Deshalb erinnern mich Schnurrbärte an den Tod.
Sehe ich einen Schnurrbart, denke ich an den Herrn Manfred. Denke ich an den Herrn Manfred, denke ich an das Freibad. Denke ich an das Freibad, denke ich an den Sommer. Und denke ich an den Sommer, denke ich an den Tod.
Weil der Sommer vergeht wie alles Schöne, das nicht vergehen sollte. Eine Liebesnacht, ein gutes Rolling-Stones-Konzert oder eine Portion Fleischlaberln mit Kartoffelpürree und gerösteten Zwiebeln und ohne Gurkerl.
Verzeihen Sie bitte diese Metapher, sie ist banal, aber ehrlich empfunden.
Jeden Sommer gehe ich ins Bad und schaue nach, ob es den Herrn Manfred noch gibt. Erst vorige Woche habe ich nachgeschaut. Es gibt ihn noch. Seit 40 Jahren stehen der Herr Manfred und sein Schnurrbart neben dem Erlebnisbecken, das freilich erst seit fünf Jahren so heißt, und passen auf, dass niemand vom Beckenrand springt.
Und wenn der Herr Manfred in 80, 90 Jahren nicht mehr hier stehen wird, sein Schnurrbart wird immer noch da sein.
Gibt es ein Leben nach dem Tod, schreibt mir ein Leser. Was, glauben Sie, passiert mit uns nach dem Tod?
Keine Ahnung, antworte ich, ich war ja noch nie tot. Und ich weiß ja nicht einmal, ob ich an ein Leben nach dem Sommer glauben kann.
2003 war ein sogenannter Jahrhundertsommer. Den habe ich aus privaten Gründen ausgelassen. Draußen tobte der Jahrhundertsommer, ich saß drinnen und stritt mit meinen privaten Gründen.
Jetzt muss ich noch einmal 100 Jahre alt werden, bis wieder ein Jahrhundertsommer kommt.
Ich fordere Jahrhundertsommer jedes Jahr. Und zwar auch im Winter.

Service

Guido Tartarotti

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 110725 Gedanken für den Tag / Guido Tartarotti
Länge: 03:49 min

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