Gedanken für den Tag
von Cornelius Hell. "Ende eines Sommers"
3. September 2011, 06:56
"Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich, / während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht" (Günter Eich).
Landschaften, Gerüche, Kindheitserinnerungen - die erste Ernte, die letzten Badetage und die Einsicht, dass der Sommer zur Neige geht. Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell macht sich sehr persönliche Gedanken über die zweite Hälfte des Sommers, des Jahres und des Lebens.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
"Die Blätter fallen, fallen wie von weit, / als welkten in den Himmeln ferne Gärten" - so beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke. Und danach folgt ein genialer Satz über diese Blätter: "Sie fallen mit verneinender Gebärde." Der herbstliche Blätterfall, so schön er auch sein mag, ist ein Vorbote des Todes. Und dagegen wehrt sich alles, selbst die Blätter. Rilkes Gedicht beschreibt die Welt als ein einziges Fallen: "Und in den Nächten fällt die schwere Erde / aus allen Sternen in die Einsamkeit."
"Fallen" ist das Zentralwort, um das dieses Gedicht kreist. Die zweite Strophe schließt von der Welt auf den Menschen: "Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: es ist in allen." Von den Blättern der Bäume bis zur menschlichen Hand - ein einziges Fallen, so konstatiert Rilkes Gedicht. Und leitet gerade aus diesem Befund eine tiefe Zuversicht ab: "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält."
Hier hat Rilke die religiöse Zuversicht zu einem suggestiven poetischen Bild verdichtet. Das Fallen ist kein Fallen ins Nichts, ins Leere, sondern in Gottes Hand. Rilkes bekanntes Gedicht "Herbsttag" beginnt wie ein Gebet: "Herr: Es ist Zeit." Doch nach den ersten zwei Strophen bricht die Anrede Gottes ab, das Gedicht mündet in einen nüchternen Befund:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachsen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter fallen.
Vielleicht sollte man die beiden Herbst-Gedichte Rilkes nebeneinander lesen. Wem das religiöse Bild von der Hand Gottes zu aufdringlich ist, kann sich davon in der nüchternen Beschreibung des Allein-Seins erholen. Und wer im Schlussbild von den Blättern, die durch Alleen treiben, eine schmerzliche Sehnsucht nach mehr spürt, muss vielleicht die religiöse Zuversicht hinter dem Blätterfall nicht sofort abweisen.
Das Ende eines Sommers, der herbstliche Blätterfall - so selbstverständlich, so gewohnt im Laufe der Jahre. Und immer wieder ein Auslöser von Fragen und Staunen.
Service
Die beiden Rilke-Gedichte heißen "Herbst" und "Herbsttag" und stammen aus dem Band "Das Buch der Bilder".
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Sendereihe
Playlist
Titel: GFT 110903 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min