Gedanken für den Tag

Von Stephan Schulmeister. "Geld, Krise und Gemeinschaft". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Genau zehn Jahre nach der Einführung des Euro als alleiniges Zahlungsmittel in vielen Ländern Europas macht sich der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister Gedanken über den Widerspruch zwischen den Grundwerten der Bürgerinnen und Bürger in der EU sowie ihren Erwartungen an die Politik und der politischen Praxis andererseits.

Befragt, worauf sie in Europa im Vergleich zu den USA stolz sind, nennen die Bürgerinnen und Bürger das sozialstaatliche Gesundheitssystem, das öffentliche Bildungswesen und die Systeme der sozialen Sicherheit. Diese Wertschätzung des Sozialen hat sich in langer Tradition gebildet.

Das Eingebundensein in Verbände, von den Zünften des Mittelalters bis zum modernen Sozialstaat sowie das Bestreben, individuelle Freiheit und sozialen Zusammenhalt zu verbinden, prägten die Geschichte Europas.

In den USA als einem Land der Eroberer und Einwanderer hat umgekehrt der Individualismus höchsten Stellenwert - jeder ist seines Glückes Schmied.

Die Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise förderte nach 1945 die europäische Integration auf mehrfache Weise.

Erstens: Die Finanzmärkte wurden reguliert. Bei festen Wechselkursen und niedrigen Zinssätzen konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten. Wirtschaftswunder fand statt: Schon 1960 war Vollbeschäftigung erreicht.

Zweitens: In Europa wurde der Sozialstaat stark ausgebaut, bei realkapitalistischen Rahmenbedingungen ging die Staatsverschuldung dennoch stetig zurück.

Drittens: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gab dem Integrationsprozess einen institutionellen Rahmen.

Das Gemeinschaftliche der EU war von Anbeginn das Ökonomische, also der gemeinsame Markt. Dies wurde in den ersten 20 Jahren durch den Ausbau des Sozialstaats innerhalb der Mitgliedsländer ausgeglichen. So entwickelte sich das Europäische Sozialmodell.

Mit der von den neoliberalen Ökonomen geforderten Deregulierung der Finanzmärkte begann in den 1970er Jahren der lange Weg in die große Krise. Auf diesem Weg wurde das Europäische Sozialmodell geschwächt, nicht zuletzt durch die EU selbst. Auf den Anstieg von Arbeitslosigkeit und Ungleichheit reagierte die Politik ja nicht mit einer Stärkung der Solidarität in Gestalt des Sozialstaats, sondern mit seiner Schwächung.

Hauptlosung wurde: Mehr Eigenvorsorge und Selbstverantwortung, und "Raus aus der sozialen Hängematte". Wer propagierte diese Losungen, die Bedürftigen oder die weniger Bedürftigen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Service

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120206 Gedanken für den Tag / Stephan Schulmeister
Länge: 03:49 min

weiteren Inhalt einblenden