Gedanken für den Tag

Von Superintendentin Luise Müller. "Von Narren und Weisen". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

"Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er sagt die Wahrheit", lautet eine Weisheit des englischen Schriftstellers Oscar Wilde einmal gemeint. Masken und Rollen, Narren und Weise, Rio de Janeiro und Venedig, oder einfach einmal aus der Alltagshaut fahren. Nicht nur der Fasching hat viele Gesichter. Die evangelisch-lutherische Superintendentin Luise Müller lüftet so manche Maske.

Das, was in der katholischen Kirche Fastenzeit heißt, begehen wir Evangelischen als Passionszeit. Heute, am Aschermittwoch tun wir den ersten Schritt in diese Zeit, die in der Karwoche am Karfreitag mit dem Gedenken des Todes Jesu ihren zentralen Punkt hat und uns dann zum Fest der Auferstehung zu Ostern führt.
Ich habe lange Zeit ein wenig abfällig auf den katholischen Brauch des Fastens geschaut. Was sollte dieser verordnete Verzicht, die geplante Enthaltsamkeit nach der vorangegangenen verordneten und geplanten Ausgelassenheit? Wo war das selbstbestimmte Leben? Mein Credo war die trotzige Eigenverantwortlichkeit gegen die traditionellen Vorgaben, das Spontane gegen die alten Riten.
Ein wenig verächtlich schaute ich auf scheinbar skurrile Einschränkungen: kein Fleisch am Freitag, kein Alkohol während der Wochen vor Ostern, was sollte uns solches Verhalten dem Leiden Jesu näher bringen? Was sollte an einem Glas Wein am Aschermittwoch schlechter sein als am Faschingsdienstag?
Wenn ich heute drüber nachdenke, was mich so evangelisch hochnäsig gemacht hat, dann war es wahrscheinlich nicht nur die unliebsame weil verordnete Einschränkung, sondern die oft unglaubhafte Rolle des Büßers. Die gleichen Leute, deren Gewissen im Fasching scheinbar gerade noch auf Urlaub gewesen war, zogen diese Rolle über wie ein neues Kleid. Weg mit dem Kostüm des Faschingsnarren - hinein in das härene Hemd des Asketen. Einfach nur eine neue Maske?
Aschermittwoch ist der Tag der Ernüchterung. Wir sind zurück am Boden der nackten Tatsachen. Das Staatsdefizit ist noch ebenso groß wie vor dem Fasching, die Probleme, die die pubertierenden Kinder machen, sind nach wie vor ungelöst, die Missstimmung im Büro ist nicht einfach über Nacht verschwunden.
Was also tun? Fasten oder die Passion Jesu bedenken: heute sehe ich das Verbindende. Indem ich den äußeren Überfluss beschränke, bewusst auf manches verzichte und anderes loslasse, fällt es mir leichter, die Ruhe und Konzentration zu erreichen, die mich hineinführt ins Herz des Christentums gleich welcher Konfession. Und solcherart zu mir und zu Gott gekommen kann es schon sein, dass sich Werte verschieben, feste Ansichten aufweichen, neue Perspektiven auftun.

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Titel: GFT 120222 Gedanken für den Tag / Luise Müller
Länge: 03:49 min

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