Dimensionen - die Welt der Wissenschaft
Die Schattenseite der Genetik. Die Biologisierung des Sozialen. Gestaltung: Marlene Nowotny
4. April 2012, 19:05
Wo Erklärungen für soziale Probleme schwierig zu finden sind, müssen oft Argumente aus dem Bereich der Naturwissenschaft herhalten. So auch bei den vermeintlich demografischen Problemen, mit denen sich Österreich und Deutschland konfrontiert sehen. Da die Geburtenraten laufend sinken, benötigen die Volkswirtschaften Zuwanderung aus anderen Ländern. In der öffentlichen Diskussion wird immer öfter auf biologistische Argumente zurückgegriffen: Es werden nicht die Bedingungen eines erfolgreichen Wirtschaftswachstums diskutiert, sondern der Erhalt des westeuropäischen Genmaterials. In einem Atemzug werden in der Debatte die niedrigen Geburtenraten mit einer drohenden Überfremdung genannt.
Auch soziale (Ungleichheits-)Verhältnisse werden biologistisch erklärt. Die konservativen Geschlechterrollen dienen der Fortpflanzung bzw. der "maximalen" Genweitergabe. Es gibt kaum "Normabweichungen", die nicht auf ein "Gen" zurückzuführen sind. Die Neigung zu zahlreichen Erkrankungen, zu Fettleibigkeit, zu Homosexualität oder auch die Neigung zu Gewalttätigkeit wie Straffälligkeit sind biologisches Schicksal.
Dass die moderne Genetik zu den wichtigsten wissenschaftlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zählt, ist unbestritten. Doch welche sozialen Konsequenzen bringt das Wissen um wahrscheinliche Krankheiten und wahrscheinliche Anlagen, die in unser Genom eingeschrieben sind, mit sich? Erstarken heute Ideen über "nationale" Gene und "historische" Genstammbäume? Warum funktionieren genetische Begriffe immer wieder in eugenischen Diskursen und treiben Steuerungs- und Fortpflanzungsideen an? Und wie kann man sich dieser "Biologisierung des Sozialen" wissenschaftlich widersetzen?