Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Die dunklen Krüge der Erinnerung" - Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Als Historikerin und Schriftstellerin hat sich Gertrud Fussenegger intensiv mit der Vergangenheit befasst; im Roman "Das Haus der dunklen Krüge" verarbeitete sie Erinnerungen an ihre böhmische Heimat. Ihr Werk ist vom Katholizismus geprägt - und doch war sie glühende Nationalsozialistin.

Die Erinnerung an Begegnungen mit einer charmanten Persönlichkeit und ihrem oft auch fragwürdigen Werk zwingt zu Reflexionen über das katholische Milieu, die Rolle der Literatur und die Abgründe der Erinnerung.

Im Sommer 1987 hatte ich als Verlagslektor zu arbeiten begonnen, im November sollte ich Gertrud Fussenegger treffen, denn der Verlag hatte einen Prosaband mit ihr vereinbart. Als Einunddreißigjähriger spürte ich eine gewisse Befangenheit, die bekannte 75-jährige Schriftstellerin in ihrer Wohnung in Leonding bei Linz aufzusuchen, vor allem auch, weil mir ihr Werk wenig vertraut war. Natürlich kannte ich den Roman "Das Haus der dunklen Krüge", in dem sie die Geschichte ihrer Familie in Pilsen, in Böhmen beschreibt, ich hatte auch ein wenig darin gelesen, aber diese Art von breiter detailreicher Erinnerung lag mir nicht. Und außerdem hatte ich schon damals eine vage Ahnung, dass Gertrud Fussenegger zumindest eine Zeit lang Nazi-Anhängerin gewesen war. Aber davon durfte natürlich bei diesem Besuch keine Rede sein, ich war ja der Lektor, der mit ihr das neue Buch vorbereiten sollte.

Bei meinem Eintritt in die Wohnung kam mir eine feine, elegante und sehr freundliche Dame entgegen, die mich sowohl ihr Alter als auch meine Befangenheit vergessen ließ. Immer noch sehe ich ihren eleganten Gang vor mir, in dem noch im Alter die Offizierstochter zu erkennen war. Die Arbeit mit ihr war unkompliziert und erfreulich. Der Band, der 1989 unter dem Titel "Goldschatz aus Böhmen" erschien, enthielt auch einige bereits publizierte Texte, und es war interessant, wie unerbittlich sie diese korrigierte und an den Erzählungen weiterarbeitete.

Und dann kam die Arbeitspause. Frau Fussenegger wartete mit Kaffee und Kuchen auf. Es fiel mir schwer, mich von ihr bedienen zu lassen. Doch als ich in ihrem Gesicht die Freude las, die es ihr machte, mich zu bewirten, konnte auch ich mich freuen. Und dann stand da auf dem Tisch die silberne Zuckerdose. Natürlich musste ich fragen, ob sie noch aus Pilsen sei. Gertrud Fussenegger bejahte. Und noch heute, nach einem Vierteljahrhundert, sehe ich die Zuckerdose vor mir, in der ich die Welt berühren konnte, aus der Gertrud Fussenegger kam und die sie beschrieb. Und noch mehr ihren graziösen Charme. Ich habe damals vielleicht zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass mich ein Mensch auch dann faszinieren kann, wenn ich seine Welt und seine Meinungen nicht teile und wenn ich nicht alles aussprechen kann, was mir durch den Kopf geht.

Service

Gertrud Fussenegger, "Das Haus der dunklen Krüge", Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120507 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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