Radiokolleg - "Stellen Sie sich vor ..."

Die Kraft der Phantasie (2). Gestaltung: Barbara Zeithammer

In der Nacht, wenn die Dunkelheit die Ecken frisst, wenn Äste ans Fenster klopfen und das Licht der Straßenlaterne seltsame Schatten in den Raum zeichnet, haben viele kleine Kinder Angst vor dem Monster unter dem Bett. Die Vernunft der Eltern, die Versicherung, es gäbe keine Monster, hilft ihnen meistens nicht. Was es braucht, ist dieselbe Kraft, die das Ungetüm erschaffen hat: die Phantasie.

Im Alter von etwa vier Jahren haben Kinder ihre Phantasie voll entwickelt; es ist der Höhepunkt dieser Lernphase, die notwendig ist, wenn die Phantasie dem Menschen später zur Verfügung stehen soll. Kinder in diesem Alter können noch nicht gut zwischen Fiktion und Realität unterscheiden - das ist ein Lernprozess, der dazu führt, dass Erwachsene problemlos in die fiktive Welt eines Buches eintauchen können, ohne den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren.

"Phantasie ist wichtiger als Wissen", schrieb Albert Einstein, "Wissen ist begrenzt, Phantasie aber umfasst die ganze Welt." Ohne die Vorstellungskraft gibt es keine Kreativität, keine Kunst. Heute gehen Forscher sogar davon aus, dass mit der Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, das Denken im eigentlichen Sinne begann. Könnte der Mensch sich nicht vorstellen, was er tun möchte und wie er ein Problem lösen könnte, wäre er nicht in der Lage zielgerichtet zu Handeln. Die Phantasie ist Voraussetzung für die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Mit Hilfe der Vorstellungskraft, optimieren Sportler ihre Leistung, und Schlaganfallpatienten verbessern ihre Bewegungsabläufe, indem sie sich konzentriert ausmalen, wie sie sich bewegen - ohne es tatsächlich zu tun. Dabei verändern sich Gehirnstrukturen und es verbessern sich die motorischen Fähigkeiten. Die Wirkung ist auch umgekehrt feststellbar: allein die Vorstellung einer Spinne, lässt den Arachnophobiker schwitzen und zittern, Adrenalin wird ausgeschüttet, ganz so, als sei die Begegnung mit der Spinne real - die Phantasie aber kann auch ganz andere Gefühle erzeugen, als der Anblick einer echten Spinne oder einer Abbildung.

In der Wissenschaftsgeschichte hat die Phantasie ein wechselvolles Dasein, ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Status entsprechend: einmal wird sie als unvernünftig und unnötig abgetan oder gar negiert, ein anderes Mal wird ihre Bedeutung für den Menschen hoch gelobt.

Aristoteles sah in der Phantasie eine eigene Qualität der Seele, für Montaigne war sie der Ursprung von Leidenschaft und Erkenntnis. Marquis de Sade begriff sie als Quelle des tiefsten Glücks des Menschen und Freud verstand sie als Möglichkeit, Trieben ein Ventil zu geben, sie im Kopf auszuleben. Jean Paul bezeichnete sie als "die Welt-Seele der Seele" und den "Elementargeist der übrigen Kräfte". "Phantasie ist nicht Ausflucht. Sich etwas vorstellen, heißt, eine Welt bauen, eine Welt erschaffen." (Eugène Ionesco).

Die Phantasie, Einbildungskraft, Vorstellungskraft - wie auch immer sie genannt wird - gerät zunehmend in den Fokus der Hirnforschung.

Service

Interviewpartner/Innen:

Wolf Singer: Hirnforscher, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main
Werner Gruber: Neurophysiker, Institut für Experimentalphysik der Universität Wien
Irmgard Slanar: Klinische Psychologin, Obfrau der Österreichischen Rorschach Gesellschaft, Wien
Jürgen Sandkühler: Hirnforscher, Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien
Thomas Brandauer: Sportpsychologe, Leiter des sportpsychologischen Kompetenzzentrums am Institut für Sportmedizin, Klagenfurt am Wörthersee
Josef Spatt: Neurologe, Leiter des Neurologischen Rehabilitationszentrums Rosenhügel, Wien

Literatur:

Jürgen Brater: Wir sind alle Neandertaler, Piper 2009
Erik Kandl: Auf der Suche nach dem Gedächtnis, Goldmann 2009
Werner Nell: Atlas der fiktiven Orte, Meyers 2012
Monika Pritzel / Matthias Brand / Hans J. Markowitsch: Gehirn und Verhalten, Spektrum Akademischer Verlag 2009
Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn, Suhrkamp 2002
Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Suhrkamp 2003
Manfred Spitzer / Wulf Bertram: Hirnforschung für Neu(ro)gierige, Schattauer 2009
Johann Caspar Rüegg: Mind & Body, Schattauer 2010
Johann Casper Rüegg: Gehirn, Psyche und Körper, Schattauer 2010

"Schnittstelle Imagination" Aufsatz von Hans Dieter Huber
"Imagination als Verbindung von Innen und Außen" Vortrag von Verena Kast
"Trauma und Imagination" Vortrag von Luise Reddemann"

Sendereihe