Gedanken für den Tag

Von Johanna Schwanberg. "Malerischer Dialog mit der Bibel" - Gedanken zum 125. Geburtstag von Marc Chagall. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Seit seiner Kindheit war Marc Chagall fasziniert von der Bibel, von der er einmal sagte: "Sie scheint mir noch immer die bedeutendste Quelle der Dichtung aller Zeiten zu sein. Seither suche ich im Leben wie in der Kunst nach ihrem Widerschein."

Anhand einzelner Gemälde beleuchtet die Kunstkritikerin Johanna Schwanberg Marc Chagalls Leben und Schaffen als einer der bedeutendsten Maler der Moderne. Im Zentrum steht dabei Marc Chagalls Auseinandersetzung mit religiösen und existentiellen Themen. Als in Weißrussland geborener jüdischer Maler, der in der Metropole der Avantgarde in Frankreich lebt, versucht Chagall eine Bildsprache zu finden, die sowohl seiner jüdischen Identität als auch der christlichen Kunsttradition gerecht wird.

Kunst und Religion

Die bestimmenden Farben sind Blau, Rosa und Schwarz. Im Zentrum ein Gekreuzigter. Ein vertrautes Bildmotiv also. Dennoch ist dieses Blatt ungewöhnlich. Denn Christus ist hier nur mit einer Hand ans Kreuz genagelt. In der anderen hält er eine Palette und mehrere Pinsel. Zugleich deutet er in Richtung einer Staffelei. Auf ihr steht eine Leinwand, auf der die Beweinung Christi dargestellt ist. Was wollte Marc Chagall sagen, als er diese Gouache in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts malte? Christus sei mit einem Künstler zu vergleichen, der seinen eigenen Tod bereits auf einem Bild visionär festgehalten hat? Oder stellt er das Schicksal des schöpferischen Künstlers in den Dienst der religiösen Botschaft und sieht den Künstler als Märtyrer?

Marc Chagall hat als Ausnahmeerscheinung innerhalb der Kunst der Moderne zeitlebens den Dialog mit religiösen Fragestellungen gesucht. So meinte er 1973 anlässlich der Eröffnung eines Museums für seinen Bibelzyklus in Nizza: "Die Bibel hat mich von Kindheit an fasziniert. Sie scheint mir noch immer die bedeutendste Quelle der Dichtung aller Zeiten zu sein. Seither suche ich im Leben wie in der Kunst nach ihrem Widerschein. Die Bibel ist wie ein Echo der Natur, und dieses Geheimnis bemühe ich mich zu vermitteln."

Mich fasziniert, dass Marc Chagall einen Weg gegangen ist, der gegen den Zeitgeist war. Mit seinen erzählerischen Bildern und seiner Freude an der Schönheit des Daseins hat Chagall gegen wesentliche Prinzipien der Avantgarde wie Abstraktion und Loslösung von literarisch-religiösen Themen verstoßen. Zugleich hat er in Bezug auf den Dialog zwischen Religion und Kunst gezeigt, dass dieser nur dann fruchtbar ist, wenn beide eigenständige Partner bleiben. Chagalls unzählige Bilder zu biblischen Themen illustrieren die Textstellen nicht. Vielmehr stellen sie dem Text eine eigenständige Bildsprache gegenüber, die ein religiöses Thema aus der Sicht eines Künstlers neu und anders sehen lässt.

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Titel: GFT 120704 Gedanken für den Tag / Johanna Schwanberg
Länge: 03:49 min

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