Zwischenruf

von Ulrich Körtner (Wien)

Die Europäische Union befindet sich in ihrer bislang größten Krise. Führende Politiker verknüpfen das Schicksal der EU mit der Zukunft des Euro. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", wird die deutsche Bundeskanzlerin nicht müde zu betonen. Mit dem permanenten Euro-Rettungsschirm ESM, der über 700 Milliarden Euro Stammkapital verfügt und Krisenstaaten wie Griechenland, Spanien oder Portugal mit bis zu 500 Milliarden Euro vor der Pleite schützen soll, ist die Gefahr jedoch keineswegs gebannt. Die Politik hat sich mit dem ESM lediglich Zeit gekauft. Doch die Zeit halbherziger Lösungsversuche ist vorbei. Ohne einschneidende Reformen in den Staatshaushalten, ohne grundlegende Reformen der europäischen Institutionen und eine Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene droht das europäische Projekt weiter zu scheitern.


Ein Wort der evangelischen Kirchen Europas

Ende September sind in Florenz die Vertreter von 107 Mitgliedskirchen zur 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa - kurz GEKE genannt -zusammengekommen. Die Versammlung stand unter dem Motto "Frei für die Zukunft". Es ging nicht nur um die Zukunft des Glaubens und der Kirche, sondern auch um die Zukunft Europas. Am letzten Tag verabschiedete die Vollversammlung ein gemeinsames Wort, das den Titel "Frei für die Zukunft - Verantwortung für Europa" trägt und konkret zur aktuellen Krise Stellung bezieht.

So treten die evangelischen Kirchen für mehr Steuergerechtigkeit ein. Im Sinne sozialer Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen Starken und Schwachen dürfen höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen kein Tabu sein. Auch für eine Transaktionssteuer macht sich die GEKE stark. Außerdem fordert sie eine wirksame Regulierung der Finanzmärkte. Weil nach evangelischem Verständnis Freiheit und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden sind, muss das Prinzip des Zusammenhangs von Risiko und Haftung auch in der Finanzwirtschaft wiederhergestellt werden. Stärker als bisher müssen von der Politik die sozialen Folgen der Krise und die sozialen Härten der gewählten Krisenbewältigungsstrategie beachtet werden. Auch auf die Gefahren eines neu erstarkenden Nationalismus und Populismus geht die Stellungnahme ein. Besonders spricht sich die GEKE für die Stärkung der Demokratie aus. Beteiligung und Mitbestimmung sind nach evangelischem Verständnis grundlegend für das Zusammenleben in Europa. So ist die GEKE davon überzeugt, dass eine wirksame und zukunftsträchtige Überwindung der Krise nur in der Anwendung und Stärkung transparenter demokratischer Verfahren auf den unterschiedlichen staatlichen Ebenen in Europa gelingen kann. Und schließlich setzt sich die GEKE für ein solidarisches Europa ein, dessen Solidarität auch in der Krise nicht an den Grenzen der Nationalstaaten oder den Grenzen Europas Halt macht, denn die Opfer der Krise leben nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Teilen der Erde.


Mut zur Wahrheit

Die GEKE will aber nicht in die Rolle des prophetischen Mahners und Besserwissers verfallen. Sie weiß, dass es auf komplizierte Fragen keine einfachen Antworten gibt, und sie weist selbstkritisch darauf hin, dass auch die Kirchen in die gegenwärtige Krise verstrickt sind.

Wozu die GEKE in ihrem Europawort an erster Stelle aufruft, ist der Mut zur Wahrheit. Wörtlich heißt es: "Christlicher Glaube lebt von der Erfahrung, durch die Wahrheit frei für die Zukunft zu werden. Er hält sich an die biblische Zusage: ,Die Wahrheit wird euch frei machen' (Johannes 8, 32). Im Vertrauen auf diese Zusage sind die Kirchen der GEKE davon überzeugt, dass die Wahrheit über das Ausmaß und die Konsequenzen der gegenwärtigen Krise Europas den Menschen nicht nur zumutbar ist, sondern befreiend wirken kann. Nur mit dem Mut zur Wahrheit können wir neue Handlungsspielräume und Perspektiven für die Zukunft gewinnen."

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