Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Einen Augenblick Luft" - Zum 150. Geburtstag von Gerhart Hauptmann. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

"Gesichter täuschen - auch das meine." Diese Warnung des Schriftstellers Gerhart Hauptmann gegenüber einer Porträtfotografin ist aktueller denn je; denn mittlerweile kann man kein Buch mehr vorstellen oder verkaufen ohne ein großes Foto des Autors oder der Autorin. Dabei sollte ein Buch durch seine Sprache bestechen oder aufgrund seines Themas interessieren, und dafür ist es ganz egal, wie der Mensch aussieht, der es geschrieben hat. Aber man schaut zuerst auf das Porträtfoto, weil man wissen will, wer der Autor oder die Autorin ist.

Der Wunsch, aus der Physiognomie, aus dem Gesicht, auf das Wesen, auf den Charakter eines Menschen zu schließen, ist uralt. Schon in der Antike war die Physiognomik eine Geheimwissenschaft, und im 18. Jahrhundert setzte man sich intensiv damit auseinander. Bei allen Einwänden - etwas von der Überzeugung, dass die Augen der Spiegel der Seele seien, ist lebendig geblieben. Darum auch die Enttäuschung, wenn ein Serienmörder so beunruhigend normal aussieht. Wenn er wenigstens einen eiskalten Blick hat, glaubt man, ihn leichter zu begreifen.

Gerhart Hauptmanns Überzeugung, dass Gesichter täuschen, hat auch damit zu tun, dass gerade er sich unzählige Male fotografieren ließ und immer wieder Modell saß. So kannte er die bewusste Stilisierung. Ein neuer Klassiker wollte er nicht nur durch seine Werke sein, sondern vor allem auch durch sein Gesicht. Dabei kam ihm zugute, dass dieses Gesicht mit zunehmendem Alter seinem Vorbild Goethe immer ähnlicher wurde. Ob Hauptmann da vielleicht auch ein wenig nachgeholfen hat, etwa durch Anweisungen an den Friseur, fragt sein Biograf Peter Sprengel.

Der Theatermensch Gerhart Hauptmann beherrschte viele Inszenierungen. Auch die Franziskanerkutte, in der er sich nicht nur fotografieren, sondern auch begraben ließ, stand ihm gut. Hauptmann ist als Person nicht leicht zu fassen und taugt nicht als Identifikationsfigur. Wohl aber dazu, um unsere Gesichter-Gläubigkeit und unsere selbstverständliche Porträt-Kultur in Frage zu stellen.

Service

Buch, Peter Sprengel, "Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biografie", Verlag C. H. Beck
Buch, Hans-Egon Hess (Hg.), "Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Dentenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters", Band V: Romane, "Der Narr in Christo Emanuel Quint", Proyläen Verlag
Buch, Hans Schwab-Felisch (Hg.), "Gerhart Hauptmann: Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit", Ullstein Taschenbuch

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Hans Pfitzner
Titel: Duo für Violine und Violoncello mit Begleitung eines kleinen Orchesters op.43 (Materialgebührpflichtig, Orchester abgegolten)
* Allegro moderato /1.Satz
Solist/Solistin: Karlheinz Franke /Violine
Solist/Solistin: Eberhard Finke /Violoncello
Orchester: Kammerorchester von Studio Oberösterreich
Leitung: Leopold Mayer
Länge: 02:00 min
Label: Leuckart, Leipzig, RE

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