Gedanken für den Tag

21. November 2012, 06:56

Tasten

Wo und wie auch immer, wenn ich kann, halte ich für einen Moment ein. In einem Moment der Ruhe schließe ich die Augen und lasse mich von Berührung berühren. Streiche mit den Händen über einen Stein und spüre seine raue Oberfläche in ihrer großen Vielfalt, entstanden über Jahrtausende wie eine urzeitliche Landkarte. Ich schlinge meine Arme um einen Baum, wie rau sich die Rinde auch anfühlt von Sturm und Regen und Schnee, von Kälte und Hitze, sie ist doch eine mütterliche Haut, die stark und geschmeidig zugleich, alles erträgt und das Leben im Inneren des Stammes schützt. Ich ziehe die Schuhe und Strümpfe aus und laufe bloßfüßig über eine Wiese, schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Füße, was sie alles vom Untergrund wahrnehmen werden. Wenn es regnet wende ich meinen Kopf gegen den Himmel und spüre wie sich jeder Tropfen mein Gesicht ertastet. Ich strecke meine Hände aus und fühle die frischen Schneeflocken, die über meine Finger streichen.

Ich erinnere mich - erst wenige Monate ist es her: Ich stelle mich auf einen Berg und spüre den Sommerwind, der mir durch das Haar und über die Haut streicht, kühl und frisch. Ich strecke einem alten Menschen meine helfende Hand entgegen und spüre an seiner abgearbeiteten Hand den Reichtum eines gelebten Lebens. Dann schließe ich die Augen und höre meinem Nächsten in Ruhe zu, und verstehe dabei mehr von ihm als er mit Worten sagen kann. Tastend mit der Hand nach den Augenlidern eines geliebten Verstorbenen und ihm die Augen schließend, begreife ich, warum Tasten erfüllend sein kann. Ja, sich von Berührung berühren lassen, aber wie macht man das, wenn man in seinem Auto sitzt, in einem Stau steht, das Handy unbarmherzig klingelt und man schon zu spät ist?

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