Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Augen offen halten und warten". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Gestern hat der Advent begonnen. Haben Sie es überhaupt bemerkt? Wenn man nicht in die Kirche geht, kann man es leicht übersehen, denn die Geschäfte, Straßen und Plätze sind schon lange voll mit Weihnachtsschmuck. Und die Adventkalender fangen ja mit dem 1. Dezember an - da wird der Adventbeginn also auch nicht ersichtlich. Das größere Problem ist freilich: Die meisten Bekannten, mit denen ich über den Adventbeginn gesprochen habe, sind erschrocken: Was, in vier Wochen ist schon Weihnachten? Weihnachten scheint wie eine Bedrohung - noch so viel zu erledigen bis dahin! Und so viele Wünsche zu erfüllen, dass einem die Erwartung vergeht. Welche Erwartung eigentlich?

Das Christentum versteht den Advent als Zeit des Wartens auf das Fest der Menschwerdung Gottes in Jesus. Menschen, die diese Menschwerdung zu Weihnachten feiern wollen, müssen zuerst innehalten und ihr eigenes Leben hinterfragen. In der Liturgie wird die Predigt Johannes des Täufers zitiert: "Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe!" Die biblische Rede vom Heranbrechen des Reiches Gottes ist auch für Christen nicht gerade eine leichte Kost. Aber ohne die Aufforderung, das eigene Leben zu überprüfen und neu auszurichten, versinkt man leicht in Betriebsamkeit und täglichem Einerlei.

Ein Schriftsteller, der im Österreich der Zwischenkriegszeit einen schweren Stand hatte und von den Nazis als Jude und Kommunist verfolgt und ermordet wurde, hat das besonders einprägsam ausgedrückt: Jura Soyfer in seinem "Lied des einfachen Menschen". Es beginnt so:

Menschen sind wir einst vielleicht gewesen
Oder werden's eines Tages sein,
Wenn wir gründlich von all dem genesen.
Aber sind wir heute Menschen? Nein!

Wir sind der Name auf dem Reisepaß,
Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,
Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls
Und Widerhall des toten Widerhalls.

Jura Soyfer wäre diese Woche hundert Jahre alt. Seine harte Diagnose hat für mich etwas von der Kraft der jüdischen Propheten, die vielleicht in seinen Worten nachklingen. Sie stellen mir die Frage: Genügt es, wenn alles so weitergeht? Worauf warte ich noch in meinem Leben?

Service

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 121203 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: Sabina Hank/geb.2.5.1976
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Jura Soyfer/1912 - 1939
Album: Abendlieder/Live at Oval
Titel: Samma scho Menschen/Live
Ausführende: Sabina Hank /Gesang, Klavier
Ausführende: Willi Resetarits /Gesang, diatonische Harfe
Ausführende: Gerald Preinfalk /Altsaxophon, Baßklarinette
Ausführende: Georg Breinschmid /Kontrabaß
Länge: 02:00 min
Label: Universal CD 1777471

weiteren Inhalt einblenden