Gedanken für den Tag

5. Dezember 2012, 06:56

"Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern." Kurt Tucholsky hat mit diesem sarkastischen Satz die Krise des Weihnachtsfestes und des Advent auf den Punkt gebracht. Weihnachten ist ein christliches Fest. Wer damit nichts anfangen kann, dem bleibt nur die Freude auf ein paar Feiertage am Ende des Jahres. Am leichtesten sind sie mit Kindern zu feiern - in ihren leuchtenden Augen, wenn der Nikolaus kommt oder die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen, spiegelt sich mehr als die Freude über Geschenke. Kinder sind voller Erwartungen - nicht nur was Weihnachten betrifft. Darum bin ich froh, dass ich Kinder habe; ohne sie kommen einem die Erwartungen so leicht abhanden.

Aber ich möchte die Kinder nicht dazu benutzen, um mich an ihren Erwartungen zu wärmen, weil ich selber keine mehr habe. Ich will auch meine eigenen Augen offen halten und warten. Schließlich hat sich in meinem Leben schon manches ereignet, wovon ich nicht einmal geträumt habe. Und wenn Weihnachten in der christlichen Tradition das Fest der Menschwerdung Gottes ist, darf ich ja den Advent auch als Vorfreude auf die eigene Menschwerdung sehen, auf das Unbekannte, Unerreichte, noch nicht Verwirklichte.

Dieser Glaube an die Befreiung des Menschen in uns fasziniert mich am "Lied des einfachen Menschen" von Jura Soyfer. Wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und vor den Nazi-Verbrechen, denen er mit 27 Jahren zum Opfer fiel, schrieb er den Schluss dieses Liedes:

Soll der Mensch in uns sich einst befreien,
Gibt's dafür ein Mittel nur allein:
Stündlich fragen, ob wir Menschen seien,
Stündlich uns die Antwort geben: Nein!

Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.
Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!
Jura Soyfer proklamiert nicht, was der Mensch sein und werden soll. Die poetischen Bilder vom Skizzenbild und vom Vorklang lassen viele Möglichkeiten offen.

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