Gedanken für den Tag

Von Joseph Lorenz, Schauspieler. "Lichte Momente". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Für die Ö1-Sendereihe "Gedanken für den Tag" hat der Schauspieler Joseph Lorenz Texte rund um den Advent und das jüdische Lichterfest Chanukka, das in dieser Woche gefeiert wird, ausgewählt.


Felix holt Senf
von Erich Kästner

Es war am Weihnachtsabend im Jahre 1927 gegen sechs Uhr, und Preissers hatten eben beschert. Die Mutter hantierte draußen in der Küche und meinte: "Die Würstchen sind gleich heiß!" Sie kam mit dem leeren Senfglas zurück und sagte: "Felix, hol Senf!" Der Vater versetzte dem Fünfzehnjährigen einen Klaps und polterte: "Hier hast du Geld. Los, hol Senf!"

Felix spazierte an hundert Läden vorbei und starrte hinein, ohne etwas zu sehen. Er war glücklich, bis ihm vor lauter Glück das Senfglas aus der Hand aufs Pflaster fiel. Die Rollläden prasselten an den Schaufenstern herunter und Felix merkte, dass er sich seit einer Stunde in der Stadt herumtrieb. Die Würstchen waren längst geplatzt! Er brachte es nicht über sich, nach Hause zu gehen. So ganz ohne Senf! Gerade heute hätte er Ohrfeigen nicht gut vertragen.

Herr und Frau Preisser aßen die Würstchen mit Ärger und ohne Senf. Um acht Uhr wurden sie ängstlich. Um neun liefen sie aus dem Haus und klingelten bei Felix Freunden. Am ersten Weihnachtsfeiertag verständigten sie die Polizei. Sie warteten drei Tage vergebens. Sie warteten drei Jahre vergebens. Langsam ging ihre Hoffnung zugrunde, schließlich warteten sie nicht mehr und versanken in hoffnungsloser Traurigkeit.

Die Weihnachtsabende wurden von nun an das Schlimmste im Leben der Eltern. Sie saßen nebeneinander, und er sagte jedes Jahr: "Diesmal sind die Würstchen aber ganz besonders gut." Und sie antwortete jedes Mal: "Ich hol dir die von Felix noch aus der Küche. Wir können jetzt nicht mehr warten."

Doch um es rasch zu sagen: Felix kam wieder. Das war am Weihnachtsabend im Jahre 1932 kurz nach sechs Uhr. Als jemand ins Zimmer trat, wagten sie nicht, sich umzudrehen. Eine zitternde Stimme sagte: "So, da ist der Senf, Vater." Und eine Hand schob sich zwischen den beiden alten Leuten hindurch und stellte wahrhaftig ein gefülltes Senfglas auf den Tisch.

Die Mutter senkte den Kopf ganz tief und faltete die Hände. Der Vater zog sich am Tisch hoch, drehte sich trotz der Tränen lachend um, hob den Arm, gab dem jungen Mann eine schallende Ohrfeige und sagte: "Das hat aber ziemlich lange gedauert, du Bengel. Setz dich hin!"

Felix saß zwischen den Eltern und erzählte von seinen Erlebnissen in der Fremde, von fünf langen Jahren. Die Eltern hielten ihn bei den Händen und hörten vor Freude nicht zu.
Schließlich stand die Mutter auf und sagte: "So Felix, jetzt hol ich dir deine Würstchen."

Service

Buch, Erich Kästner, "Ein Schwein beim Frisör", Verlag Atrium

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Francesco Manfredini/1684 - 1762
Album: EIN WEIHNACHTSKONZERT
* Largo - 2.Satz (00:02:58)
Titel: Concerto grosso per il Santissimo Natale op.3 Nr.12 in C-Dur
Leitung: Herbert von Karajan
Orchester: Berliner Philharmoniker
Länge: 02:00 min
Label: DG 4194132

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