Gedanken für den Tag

4. Jänner 2013, 06:56

Es ist kein Zufall, hängt vielmehr mit ihrer Literaturauffassung eng zusammen, dass unter allen Mythen-Fortschreibungen, die im Werk von Rose Ausländer zu entdecken sind, namentlich der Ikarus-Mythos eine zentrale Rolle spielt, dass das lyrische Ich häufig als Ikarus erscheint. Diese Figur gerät dabei nicht selten in den Wirkungsbereich anderer mythischer Gestalten, beispielsweise des Sisyphus -

MIT DEM SIEB

Mit dem Sieb
schöpfe ich Wasser
für meine Mühle
halte die Flügel in Gang
mit meinem Atem
mahle
den Hunger

Nie jedoch tritt, Ikarus in den Schatten stellend, die Vatergestalt des Daedalus auf den Plan, die seit Ovid als Personifikation der Besonnenheit fungiert. Im Gegenteil: Keine Ordnung stiftende Autorität bleibt von Kritik verschont, auch nicht die im Ikarus-Paradigma so bedeutungsvolle Sonne, die im griechischen und lateinischen Sprachraum bekanntlich männlich ist und die Vaterordnung repräsentiert.

Auch dort, wo Rose Ausländer das Ikarus-Motiv nur andeutet und anderen Motiven unterordnet (so dass, ähnlich wie in Pieter Bruegels Ölgemälde "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus", am Ende Ikarus leicht übersehen werden kann) übernimmt sie, anders als Bruegel, nirgends die Perspektive des Daedalus. Denn: "Nichts hat Bestand / nur der Flug."

IKARUS

Der Himmel fällt
du mußt fliegen
ihn halten
Das hohe Lied der Luft
hält nicht
was du dir versprochen
das Leichte nicht dein Los
Jenseits die Parzen
emsig ohne Schlaf
blind und eingeweiht
Gespinst aus Regenfäden
Flügel oder Leichenhemd?
Mit wem sag hadern
Rippen und Genick

In vielen Gedichten der Rose Ausländer ist vom Fliegen, von Vögeln und von Engeln die Rede. Sie erinnern an das "Eswareinmalheim" der Kindheit ("Die Eltern flogen mit uns") und verweisen zugleich auch darauf, dass die Kindheitsidylle durch den Einbruch der Geschichte zerstört worden ist.

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