Gedanken für den Tag

Katharina Strasser liest: "Liebesfähig zu werden ist das Ziel des Lebens" - Zum 10. Todestag von Dorothee Sölle. Gestaltung: Alexandra Mantler

Wonach sehnen sich Menschen? Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben. Das alte Wort der religiösen Sprache "Heil" drückt genau dieses Ganz-Sein, Unzerstückt-Sein, Nicht-kaputt-Sein aus. Dass die kaputten Typen - und wer rechnet sich nicht zuzeiten dazu? - den Wunsch haben, ganz zu sein, ist nur verständlich. Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung. Vertrauen können, hoffen können, glauben können alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um dieses Glück des Ganz-Seins geht es in der Religion.

Ich halte diesen Wunsch, dieses religiöse Bedürfnis für unaufgebbar, auch wenn es schwer ist, darüber zu sprechen. Ernst Bloch nennt das, was ich meine, "etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat". Die Sehnsucht nach Heimat ist die nicht-private Formulierung desselben Wunsches, ganz zu sein. Blochs Formulierung macht deutlich, wie nahe die Religion der Sentimentalität steht. Aber die Angst vor Sentimentalität ist kein Grund, die Sehnsucht nach Heimat zu verdrängen.

Das religiöse Bedürfnis ist das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften.
Religion ist der Versuch, nichts in der Welt als fremd, menschenfeindlich, schicksalhaft, sinnlos anzunehmen, sondern alles, was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt.
Alles soll so gedeutet werden, dass es "für uns" wird. Religion ist der Versuch, keinen Nihilismus zu dulden und eine unendliche (endlich nicht widerlegbare) Bejahung des Lebens zu leben.

Benötigen wir das Wort "Gott", um die noch nicht erreichte Totalität unserer Welt, die noch nicht erschienene Wahrheit unseres Lebens auszudrücken? In diesem Sinn lässt sich sagen, dass jeder Mensch die Frage, ob er an Gott oder an das Nichts, an den Sinn seines Lebens oder an die absolute Sinnlosigkeit glaubt, immer schon in seinem Leben entschieden hat.
Dorothee Sölle, Der Wunsch, ganz zu sein, in: Die Hinreise, Kreuz Verlag, Stuttgart 1975

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Alessandro Marcello/1669 - 1747
Titel: Concerto in d-moll für Oboe, Streicher und B.c.
* Andante e spiccato - 1.Satz (00:03:26)
Ausführende: I Musici
Solist/Solistin: Heinz Holliger /Oboe
Länge: 02:00 min
Label: Philips 420189-2

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