Da capo: Im Gespräch

"Wir sind am Rande der Erschöpfung und am Rande des Sinnvollen angelangt." Michael Kerbler spricht mit Hartmut Rosa, Soziologe

Angefangen, so berichtete der Soziologe Hartmut Rosa IM GESPRÄCH vor fünf Jahren, angefangen habe er sich für das Thema "Beschleunigung" zu interessieren, als er über ein dem Schriftsteller Ödön von Horvath zugeschriebenes Bonmot "stolperte". Dieses lautet: "Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm' ich so selten dazu". Das traf genau die Lebenserfahrung von Hartmut Rosa. Aber wohl nicht nur seine. Man hetzt von Termin zu Termin, privat oder beruflich, und hat dabei das Gefühl, nie zu den Dingen zu kommen, an denen einem wirklich liegt. Rosa wollte wissen, ob er etwas falsch mache, oder ob er einem Strukturproblem der modernen Gesellschaft auf die Spur gekommen war. Je länger er nachforschte, umso klarer zeigte sich: das Problem "Beschleunigung" ist in die Wurzeln der Moderne eingewoben. "Das Stummwerden der Welt ist nach meinem Dafürhalten eine der großen Gefahren der beschleunigten Moderne.", sagt Hartmut Rosa.

Diese technisch und ökonomisch verursachte Beschleunigung zeigt sich in der rasanten Entwicklung der Technik im 19. und 20. Jahrhundert sowie der sozialen Beschleunigung der Menschen. Aufgrund des technischen Fortschritts entsteht - so der Wissenschaftler - allerdings Zeitnot und kein Zeitgewinn. Laut Rosa führt die Vielzahl der Optionen außerdem dazu, dass der Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten im Laufe seines Lebens gar nicht mehr ausschöpfen kann. Die "Steigerungsrate der Optionen übersteigt die Beschleunigungsrate", was - so Rosa - dazu führt, dass das soeben Erlebte bereits nicht mehr "up to date" ist und die Individuen keine Chancen haben "lebensgesättigt" zu sterben. "Vielleicht wird uns die Zeit in der Moderne so knapp, weil diese Moderne eine panische Reaktion auf die Gewissheit des Todes ist."

Hartmut Rosa hat mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten Grundlagenarbeit zum Thema "Beschleunigung" geleistet. In seinem jüngsten Essay legt er dar, wie eine kritische Gesellschaftstheorie verfasst sein muss, die den Zusammenhang von Beschleunigung und Entfremdung ernst nimmt.

Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem guten Leben - und warum es uns heute vielfach nicht gelingt, ein solches zu führen. Immerhin sind durch die Liberalisierung moralischer Normen und sozialer Konventionen die in den westlichen Gesellschaften vorhandenen Freiräume des Einzelnen größer denn je, sich ein eigenes Konzept des guten Lebens zu wählen und zu verwirklichen. Dieser Liberalisierung steht jedoch die scheinbar unaufhaltsame Beschleunigung des sozialen Lebens im Kapitalismus gegenüber. Dieses Regime der Deadlines lässt Lebensentwürfe scheitern und führt zu einem sich immer stärker ausbreitenden Gefühl der Entfremdung.

Service

Hartmut Rosa, "Beschleunigung und Entfremdung - Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit", Suhrkamp Verlag

Hartmut Rosa, "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne", Suhrkamp Verlag, Frankfurt

Robert und Edward Skidelsky, "Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens", Kunstmann Verlag, München

Paul Virilio, "Rasender Stillstand", übersetzt von Bernd Wilczek, Taschenbuch, Fischer Verlag, Frankfurt

Olaf Georg Klein, "Zeit als Lebenskunst", Verlag Wagenbach, Berlin

Sendereihe