Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer: "Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ... ". Gestaltung: Alexandra Mantler

Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn,
Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.

Ingeborg Bachmanns Gedicht "An die Sonne" beginnt wie ein Sonnen-Hymnus aus heidnischer Zeit. Die Szenerie ist ganz reduziert auf die Sonne und die Verbindung eines sprechenden Ich mit einem Du:

Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Daß ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!

Sehen und Augen, das sind zentrale Worte des Gedichtes. Die Sonne öffnet die Augen, die Sonne lehrt Sehen. Die gemeinsam erlebte, ein Liebespaar wärmende Sonne.

"An die Sonne" ist eines der ersten Gedichte von Ingeborg Bachmann, das ich noch als Gymnasiast entdeckt und liebgewonnen habe. Aufgewachsen in einem Bergdorf und später im Salzburger Schnürlregen, lernte ich die Sonne als kostbares Gut kennen; von ihr hing es ab, ob der Sommer glückte, ob es ein paar wunderbare Tage gab. Wenn sie endlich schien, musste man alles liegen und stehen lassen und hinaus - an die Bäche des Dorfes, später an die Seen oder wenigstens ins Schwimmbad.

Ich bin dankbar für diese Erfahrung der Sonne, als sie noch nicht so gefährlich war. Und ich frage mich, ob meine Kinder ein anderes Weltgefühl haben werden, wenn sie die Sonne zuerst mit Schutzkleidung und Eincremen verbinden. Sie können nicht mehr so bedenkenlos hinausrennen in die Sonne wie ich, als ich ein Kind war.

Ingeborg Bachmanns Gedicht "An die Sonne" ist vom mediterranen Süden inspiriert und kennt daher, obwohl es in meinem Geburtsjahr 1956 erschienen ist, auch die gefährliche Seite der Sonne: "Und meine begeisterten Augen / Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund" - auch das steht in diesem Gedicht, das mit einer großen Klage endet; die Einheit von Ich, Du und Sonne zerfällt. Aber das Gedicht hat ein klares Zentrum, denn es ist streng symmetrisch gebaut. Und in der Mitte steht jener Vers, der mich durch viele Sommer geführt und den mir auch die aggressivste Hitze noch nicht aufgetrieben hat:
Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein...

Service

Buch, Sommergedichte, ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Verlag Philipp Reclam jun.
Buch, Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, R. Piper Verlag
Buch, Ernst Stadler, Sommer, aus: Der Aufbruch. Gedichte, Verlag Kurt Wolff
Buch, Gottfried Keller, Ich hab in kalten Wintertagen, aus: Gedichte, Band 1, Hrsg. v. Kai Kauffmann, Deutscher Klassiker Verlag

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johannes Brahms/1833 - 1897
Titel: Trio für Klavier, Klarinette und Violoncello in a-moll op.114
* Allegro - 4.Satz (00:04:40)
Solist/Solistin: Andras Schiff /Klavier
Solist/Solistin: Peter Schmidl /Klarinette
Solist/Solistin: Friedrich Dolezal /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: Decca 4101142

weiteren Inhalt einblenden