Gedanken für den Tag
von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer: "Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ... ". Gestaltung: Alexandra Mantler
3. August 2013, 06:56
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
So klangvoll und leicht reimen wie Theodor Storm in seinem Gedicht "Die Nachtigall" - das konnten nur wenige in der deutschen Literatur. Und Storm führte da nicht einfach poetisches Handwerk oder eine Konvention vor, sondern er bildet in dem Binnenreim Hall und Widerhall das Echo des Gesanges der Nachtigall auch gleich akustisch ab. Das mag ich so an diesem Gedicht: Storm muss nicht lange beschreiben - er vergegenwärtigt die Nachtigall und ihren Gesang.
Die zweite Strophe scheint zunächst von etwas ganz anderem zu sprechen:
Sie war doch sonst ein wildes Blut
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.
Von einem jungen Mädchen ist offenbar die Rede, einem Mädchen, das wild war und ruhig geworden ist; das die Sonnenglut erträgt und nicht weiß, was es mit sich anfangen soll. Da die Nachtigall wie auch die Rosen in der ersten Strophe zwei traditionelle Symbole für die Liebe sind, wird klar: das Mädchen ist verliebt. Darum hat es sich so verändert. Der Sommer ist, wie in vielen Gedichten, die Zeit der Liebe. Weil erst jetzt ganz verständlich ist, was der Gesang der Nachtigall bewirkt hat, schließt Theodor Storm sein Gedicht mit der Wiederholung der ersten Strophe:
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Rosen und Nachtigall gehören zur konventionellen Ausstattung von Liebessliedern. Sie stehen, so scheint mir, für die Farben und Klänge, die der oder die Liebende sieht und hört. Oder umgekehrt: Sie zeigen, dass nur jemand, dessen Augen und Ohren offen sind, Liebe erfahren kann. Und dass der Sommer die Zeit ist für das Schauen und Horchen. Theodor Storms Symbol dafür ist die Nachtigall mit ihrem Schall in Hall und Widerhall.
Service
Buch, Sommergedichte, ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Verlag Philipp Reclam jun.
Buch, Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, R. Piper Verlag
Buch, Ernst Stadler, Sommer, aus: Der Aufbruch. Gedichte, Verlag Kurt Wolff
Buch, Gottfried Keller, Ich hab in kalten Wintertagen, aus: Gedichte, Band 1, Hrsg. v. Kai Kauffmann, Deutscher Klassiker Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Antonio Vivaldi
Titel: Sonate für Oboe und B.c. in g-moll RV 28
* Allegro - 4.Satz (00:02:06)
Solist/Solistin: Burkhard Glaetzner /Oboe
Solist/Solistin: Christine Schornsheim /Cembalo
Solist/Solistin: Achim Beyer /Violone
Solist/Solistin: Siegfried Pank /Viola da gamba
Länge: 02:00 min
Label: Capriccio 10143