Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus" - Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den anderen zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und dass Millionen es schon so gemacht haben, und dass es Millionen wieder so machen werden, und dass wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles doppelt geschieht - das ist sehr traurig."

Georg Büchners Danton spricht diese Sätze. Den Tod vor Augen, beschreibt er den Terror der Normalität, den Wahnsinn des Alltags. Einem Künstler an der Grenze zum Wahnsinn gilt Büchners einzige, Fragment gebliebene Erzählung "Lenz". Wie er den Leser dabei ganz in den Goethe-Zeitgenossen Jakob Michael Reinhold Lenz hineinversetzt und ihn nur wenig mehr erkennen lässt als diesen selbst, welche präzisen und unverwechselbaren Bilder er für den Weg in den Wahnsinn findet - das macht ihm, zumal im 19. Jahrhundert, keiner nach.
"Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Mit diesem Satz auf der ersten Seite der Erzählung "Lenz" klingt bereits das Faszinierende der anderen Perspektive des Wahnsinns, des anderen Blicks auf die Welt an. Pfarrer Oberlin, bei dem Lenz sich aufhält, ist gutmütig bemüht, aber er kann den Wahnsinn nicht aufhalten. Immer wieder zeigt sich das Geniale dieses Wahnsinns - Büchner schreibt eine Künstler-Erzählung, keine Fallstudie. In gewissem Sinn ist dieser kreative Wahnsinn auch der biederen Religiosität des Pfarrers überlegen.

Am Ende der Erzählung verfällt Lenz in Apathie. Die letzten Sätze lauten: "Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Anderen taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - So lebte er hin."

Alles tun wie die anderen und dahinleben: Das ist die trostloseste Art des Lebens. Büchners Werk ist ein komplexer, vielschichtiger Aufschrei dagegen - und eine Medizin, nicht in diese Apathie zu verfallen.

"Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" Mit dieser Kampfansage beginnt Georg Büchners Flugschrift "Der Hessische Landbote". In biblischer Sprache polemisiert sie gegen die "gottgewollte" Herrschaft - untermauert mit genauen Statistiken über Steuern und Ausgaben des Großherzogtums Hessen.

Büchner ist ein Radikaler - in seinem Denken wie in seiner Sprache, politisch wie privat. An seine Geliebte schreibt er: "Ich mag nicht hinter jedem Kusse die Kochtöpfe rasseln hören, und bei den verschiedenen Tanten das Familienvatergesicht ziehen." Worum es ihm hinter Spott und Polemik geht, steht in einem Brief an die Familie: "Ich hoffe noch immer, dass ich leidenden, gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe." Vom Leid kann er seinen Blick nicht abwenden - im Drama "Dantons Tod" ist es "der Fels des Atheismus".

Dass er damit ebenso wie mit den Stücken "Woyzeck" und "Leonce und Lena" weltberühmt werden sollte, war nicht abzusehen, als er am 17. Oktober 1813 in einem kleinen hessischen Dorf zur Welt kam; auch nicht, als er mit 23 Jahren in Zürich an Typhus starb.

Ingeborg Bachmann - ihr Todestag jährt sich diese Woche zum 40. Mal - sagte, als sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, sie sei es "nicht wert, Büchner das Schuhband zu lösen".

Service

Buch, Georg Büchner, "Sämtliche Werke und Briefe", Reclam Verlag
Buch, Georg Büchner, "Werke und Briefe", Verlag Lambert Schneider
Buch, Hermann Kurzke, "Georg Büchner. Geschichte eines Genies", Verlag C. H. Beck
Buch, Jan-Christoph Hauschild, "Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit", Verlag Hoffmann & Campe
Buch, Michael Hofmann und Julian Kanning, "Georg Büchner. Epoche - Werk - Wirkung", Verlag C. H. Beck
Buch, Jan-Christoph Hauschild, "Georg Büchners Frauen", Deutscher Taschenbuchverlag
Buch, Barbara Neymeyr (Hg.), "Georg Büchner", Neue Wege der Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Buch, Christian Milz, "Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller", Passagen Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Album: Die schönsten Cellokonzerte - gespielt von Jacqueline du Pre
* Nicht zu schnell - 1.Satz (00:12:22)
Titel: Konzert für Violoncello und Orchester in a-moll op.129
Cellokonzert
Solist/Solistin: Jacqueline du Pre /Violoncello
Orchester: New Philharmonia Orchestra London
Leitung: Daniel Barenboim
Länge: 02:00 min
Label: EMI CMS 7632832

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