Gedanken für den Tag
Von Mirja Kutzer, Germanistin und katholische Theologin. "November-Liebe". Gestaltung: Alexandra Mantler
13. November 2013, 06:56
Bis heute rätselt die Forschung, wie das Hohelied in die Bibel gekommen ist. Ein Mann und eine Frau sprechen in wunderschönen literarischen Figuren einander an. Sie preisen die Schönheit des jeweils anderen, teilen das Nachtlager miteinander. Anders, als man es für einen biblischen Text erwarten würde, ist von Gott darin keine Rede. In den Kanon der Bibel sind diese Liebeslieder vermutlich deshalb gekommen, weil man in ihnen schon früh das Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel abgebildet sah.
Das Christentum hat das Verhältnis der Liebenden zueinander auf Gott und die Kirche oder auch die Seele des Menschen übertragen. Von seiner Farbigkeit hat das Hohelied dabei freilich viel eingebüßt. Die erotischen Bilder wurden in theologische Spekulationen übersetzt. Von den ursprünglichen Gefühlen blieb oft wenig übrig. Und doch ist über das Hohelied auch immer wieder die Erotik in die Gottesrede gewandert.
"Ich finde keine Ruhe", sagt die Seele, "wenn Christus mich nicht mit dem Kuss seines Mundes küsst." Diese Zeilen stehen bei Bernhard von Clairvaux in einer seiner berühmten Predigten über das Hohelied. "Sehnsucht,", so heißt es weiter, "nicht Vernunft ist mein Ratgeber. Werft mir bitte nicht Vermessenheit vor, wo die Leidenschaft mich verbrennt." Hier formt das Hohelied die damals übliche Gottesrede deutlich um: Statt als ferner Feudalherr und Richter wird Gott als ein leidenschaftlich Liebender gezeichnet. Er begegnet dem Menschen nicht zuerst auf der Ebene der Vernunft und des Denkens, sondern auf der des Gefühls. Der Mensch seinerseits begehrt, fordert, genießt und leidet.
Vielleicht ist dies eine der stärksten Einsichten, die vom Hohelied in die Schriften Bernhards gewandert ist, und die wir auch heute noch nachvollziehen können: Dass wir nur dann wirklich leben, wenn wir verliebt sind. Und dass wir nur dadurch überhaupt fähig sind, erlöst zu werden.
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Sendereihe
Playlist
Komponist/Komponistin: Patrick Hawes/geb.1958
Vorlage: Bibel AT /Hoheslied
Bearbeiter/Bearbeiterin: Patrick Hawes /Textfassung
Album: SONG OF SONGS - GEISTLICHE CHORMUSIK VON PATRICK HAWES
Titel: Nr.1 Love's Promise
Textanfang: Come my beloved where the vine has budded : there will I give my love
Titel: SONG OF SONGS - Sechs Lieder nach dem "Hohelied" für Sopran, Chor und Kammerorchester
Anderssprachiger Titel: Lied der Lieder
Solist/Solistin: Elin Manahan Thomas /Sopran
Chor: Conventus /< gegr.2002 v. Patrick Hawes >
Orchester: The English Chamber Orchestra
Leitung: Patrick Hawes
Länge: 02:00 min
Label: Signum Classics SIGCD 162