Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich will meinen Kampf beten" - Zum 25. Todestag von Thomas Bernhard. Gestaltung: Alexandra Mantler

Viele Lyrikerinnen und Lyriker des 20. Jahrhunderts haben Psalm-Gedichte geschrieben. Bei Georg Trakl oder Bertolt Brecht haben sie nicht die Form einer Gottes-Anrede. Die neun Psalmen von Thomas Bernhard hingegen sind, wie die biblischen Psalmen, an ein Du gerichtet: zornig aufbegehrend im ersten Psalm, leise sich fügend im zweiten und auf Zukunft gerichtet, ein Versprechen ablegend im dritten:

Was ich tue, ist schlecht getan,
was ich singe, ist schlecht gesungen,
darum hast Du ein Recht
auf meine Hände
und auf meine Stimme.
Ich werde arbeiten nach meinen Kräften.
Ich verspreche Dir die Ernte.
Ich werde singen den Gesang der untergegangenen Völker.
Ich werde mein Volk singen.
Ich werde lieben.
Auch die Verbrecher!
Mit den Verbrechern und mit den Unbeschützten
Werde ich eine neue Heimat gründen -
Trotzdem ist, was ich tue, schlecht getan,
was ich singe, schlecht gesungen.
Darum hast du ein Recht
auf meine Hände
und auf meine Stimme.

"Was ich tue, ist schlecht getan" - das klingt auf den ersten Blick wie eine Überdosis christlich gefärbter Selbstanklage. Doch das betende Ich hält seine Hände und seine Stimme für so wichtig, dass es dem angesprochenen Du - das Wort "Gott" fällt nicht - ein Recht darauf einräumt und ihm die Ernte seiner Arbeit verspricht. Dieses Ich steht auf der Seite der Verbrecher und der Unbeschützten und erinnert an die untergegangenen Völker. Das Pathos des Versprechens und der neuen Heimat ist gebrochen durch die Einsicht in die Mängel des eigenen Tuns. Christlich grundierte, aber nicht klischeehafte Hoffnungen klingen an - sympathisch gebrochen durch Selbstkritik.

Service

Buch, Volker Bohn (Hg.), "Thomas Bernhard. Gesammelte Gedichte", Verlag Suhrkamp

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Bearbeiter/Bearbeiterin: Ferruccio Busoni/1866 - 1924
Titel: Choralvorspiel zu der Kantate " Nun komm' der Heiden Heiland" BWV 659/ Bearbeitung für Klavier
Solist/Solistin: Alfred Brendel /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Philips 4122522

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