Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Freiheit, die sich erfindet und mich erfindet Tag für Tag" - Zum 100. Geburtstag von Octavio Paz. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Das ist ein Gedicht", sagte meine Mutter immer dann, wenn eine Speise besonders gut war. Gedichte also, dachte ich als Kind, kann man kosten und kauen - und sie schmecken.

Mit Kosten und Kauen scheinen Gedichte tatsächlich viel zu tun zu haben. Und Schmecken ist eine persönliche Angelegenheit - wie Gedichte auch. Denn was ein Gedicht ist - und was es nicht ist -, ist rational und klassifizierend oft gar nicht so leicht zu sagen.

Ein Reim macht vielleicht ein Gedicht - aber kein Reim macht auch eines. Was macht also eine Erfahrung zu einer poetischen? Und warum können wir auch Landschaften oder Stimmungen oder Begegnungen mit Menschen als poetisch erleben?

Weil das Gedicht eben nicht einfach nur eine literarische Form ist, schrieb der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz, der vor 100 Jahren am 31. März geboren wurde, "sondern der Ort der Begegnung zwischen der Dichtung und dem Menschen. Das Gedicht ist ein verbaler Organismus, der Dichtung enthält, hervorruft oder ausstrahlt."

Für Octavio Paz war jedes einzelne Gedicht etwas Einzigartiges. Und etwas Transzendentales. Denn ein Gedicht verkörpert etwas, das die Sprache, den Text transzendiert und über sie hinausgeht. Oder anders gesagt: Ohne aufzuhören, Sprache zu sein, ist das Gedicht etwas, was auch jenseits der Sprache ist.

Wer einmal von einem Gedicht berührt worden ist, weiß, was damit gemeint ist: "Es ist das, was es ist", nämlich zum Beispiel ein Rhythmus, ein Wortklang, ein Reim - und doch ist es auch etwas anderes: weil es bei den Hörern oder Lesern etwas hervorruft. Und das hängt immer auch zusammen mit dem, was Hörerinnen und Leserinnen mitbringen.

Die Gärten liegen in uns, schrieb Octavio Paz, und: "Jeder Leser sucht etwas im Gedicht. Und es ist nicht sonderbar, dass er es findet: er trug es bereits in sich."

Service

Buch, Octavio Paz, "Gedichte", Verlag Suhrkamp
Buch, Christian Morgenstern, "Gedichte in einem Band", Insel Verlag


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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Manuel Maria Ponce/1882 - 1948
Album: MUSICA MEXICANA - Musik aus Mexiko / Vol.3
* Allegro moderato e festivo - 3.Satz (00:05:14)
Titel: Concierto del Sur - Konzert für Gitarre und Orchester
Solist/Solistin: Alfonso Moreno /Gitarre
Orchester: Orquesta Filarmonica del Estado de Mexico
Leitung: Enrique Batiz
Länge: 02:00 min
Label: ASV CD DCA 871

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