Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Kunstwissenschafterin und Direktorin des Wiener Dommuseums. "Visionär mittels Pinsel und Farbe" - Zum 400. Todestag von El Greco. Gestaltung: Alexandra Mantler

Zwei weibliche Gestalten unter einem Torbogen. Sie tragen lange wallende Gewänder. Die Frauen schauen einander in die Augen, sie legen einander die Arme auf die Schulter. Obwohl die Gesichtsausdrücke kaum zu erkennen sind, entsteht der Eindruck von Zärtlichkeit und Einvernehmen. Herausragend an diesem hochformatigen Ölbild sind die zurückhaltende Farbigkeit und die skizzenhafte Malweise. Unwichtige Details sind weggelassen. Stattdessen dominiert die Farbe Blau. Unterbrochen lediglich von weißen Aufhellungen und wenigen braunen Stellen.

Gemalt hat dieses Bild El Greco in den 1610er Jahren. Es war ursprünglich für eine Kapelle in Toledo gedacht und befindet sich heute in Washington. Das Gemälde nennt sich "Heimsuchung" und bezieht sich auf eine Bibelstelle. Es zeigt die Begegnung der schwangeren Maria mit ihrer ebenfalls schwangeren Kusine Elisabeth. Diese erwartet Johannes den Täufer. So heißt es im Lukasevangelium: "Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe."

Mich fasziniert dieses Bild aus vielen Gründen. Als Kunstwissenschaftlerin überzeugen mich die Ausdrucksstärke und die Reduktion der Formen und Farben. Es wundert mich nicht, dass solche El-Greco-Werke, die Jahrhunderte vergessen waren, zum Vorbild für die Moderne wurden. Pablo Picassos legendäre "Blaue Periode" dürfte etwa von Bildern wie diesem inspiriert worden sein.

Als Frau und Mutter berühren mich die Innigkeit und das persönliche Thema. Auch wenn meine Kinder heute schon neun und elf Jahre alt sind, geht es mir immer noch nahe, wenn ich mich daran erinnere, was es für ein unglaubliches Gefühl war, ihre Bewegungen, ihr Heranwachsen in meinem Körper zu spüren.

Schließlich begeistert mich besonders El Grecos Konzentration auf das Wesentliche. Der Künstler hat dabei enormen Mut bewiesen, denn eine solch abstrakte Malweise war zu seinen Lebzeiten alles andere als üblich.

Ist das nicht etwas, worum es mir und vielen anderen tagtäglich geht? Zu entscheiden, was im jeweiligen Moment, im Leben wirklich wichtig ist - und alles andere wegzulassen.

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Joan Ambrosio Dalza/um 1500
Komponist/Komponistin: Joan Ambrosio DALZA/2.Hälfte 15.Jhd.Mailand - nach 1508 < Sterbeort unbekannt >
Album: Tanzmusik der Renaissance
Titel: Calata ala Spagnola
Ausführende: Ulsamer Collegium
Leitung: Josef Ulsamer
Solist/Solistin: Konrad Ragossnig /Laute
Länge: 02:00 min
Label: DG 4152942

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