Radiokolleg - Der wunde Punkt
Zum Unbehagen an der Kritik
(3). Gestaltung: Thomas Edlinger
4. Juni 2014, 09:05
Es gibt nichts, was nicht mit dem misstrauischen Blick des Kritisierenden auseinandergenommen werden würde: von der Gesellschaft im großen Ganzen bis zu den geheimen Regungen des Ichs, vom fernsten Wissensregime bis zur Intimität der eigenen Beziehung. Eine unkritische Haltung ist wie Mundgeruch: Sie kommt nur bei den anderen vor. Die Ablehnung des Bestehenden ist das Missing Link zwischen Wirtshaus, Schlafzimmer und Professorenpult, zwischen rabiater Kritik am "System", Kritik am unverständlichen Gegenüber und reformistischer Selbstkritik.
Der tägliche Aufschrei der kulturkritischen Massen widmet sich dem Politiker/innenbashing, der Beziehungskritik in Büro-Feedbackrunden und nicht zuletzt der Triebabfuhr im Shitstorm. Das intellektuelle Geschäft einer selbstkritischen Kritik wird in genderkritischen Wissenschaften, kapitalismuskritischen Sammelbänden und institutionskritischen Kunstinstitutionen abgewickelt. Eine unterprivilegierte Mehrheit ereifert sich über die Besserwisser/innen da oben, eine privilegierte Minderheit rümpft die Nase über den Populismus des Pöbels. Gemeinsam genießen alle die Verdammung der Verdummung der anderen, allein fragen immer mehr Menschen nach dem moralisch vertretbaren Griff in das Supermarktregal.
Obwohl Kritik Volkssport ist, wird dadurch die Welt nicht automatisch ein besserer Ort. Die Kritik ist zweigeteilt. Kritik an Einzelnen und an persönlich adressierbaren Verfehlungen ist beliebt und überschreitet oft die Grenze zum Mobbing. Die Gesellschaftskritik erscheint oft zu abstrakt und angesichts der Pluralität der Lebensformen überfordert. Ihre Ratlosigkeit wird paradoxerweise durch ihren Fortschritt befördert. Weil die Kritik an der Kritik die Kritik selbstreflexiver und klüger gemacht hat, hat sie heute oft Mühe, ihre Funktion zu begründen, ihre Methode zu plausibilisieren und ihren gesellschaftlichen Standort zu klären. Gegen die Resignation an kritisierten, aber sich nicht substantiell verbessernden Umständen und die Ermüdung durch die Rituale eines leerlaufenden Lamentos erhebt ein neuer Futurismus sein Antlitz: Posthumanist/innen und Akzelerationist/innen wetten auf die Zukunft und setzen auf die Kraft der spielerischen Spekulation. Solche Positionen sind nicht einfach unkritisch, sondern glauben nicht mehr an die Macht der Kritik, wie wir sie kannten.
Service
Armen Avanessian (Hrsg.): Akzelerationismus. Merve 2013
Dieter Bogner/Martin Fritz (Hrsg): Beziehungsarbeit. Kunst und Institution. Schlebrügge.Editor 2011
Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK 2006
Robin Celicates: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Campus 2009
Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Suhrkamp 2013
Rahel Jaeggi, Tilo Welsch (Hrsg): Was ist Kritik? Suhrkamp 2009
Bruna Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Diaphanes 2007
Oliver Marchart: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Suhrkamp 2013
Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik. Suhrkamp 2013