Diagonal - Radio für Zeitgenoss/innen

14. Juni 2014, 17:05

Im Spiegel sieht man sich, als wäre man ein anderer. Und gleichzeitig zeigt der Spiegel, wie man von anderen gesehen wird. Der erste Spiegel war wohl eine ruhige Wasseroberfläche. Im Mythos beugt sich Narziss über einen Teich und verliebt sich in sein Ebenbild. Doch die Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild kann auch schmerzhaft sein. Denn oft zeigt der Blick in den Spiegel nicht, was das Ideal diktiert. Wenn das Spiegelbild zum Zerrbild wird, enthüllt es, was man sich wünscht, oder was man fürchtet.
Für den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan ist das Erkennen des eigenen Spiegelbilds ein entwicklungspsychologisch entscheidendes Stadium. Denn nur im Spiegelbild sieht der Mensch sein Gesicht und seinen Körper als Ganzes. Menschen mit Körperwahrnehmungsstörungen können den Anblick ihres Spiegelbildes kaum ertragen. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft gehört die permanente Selbstbespiegelung andererseits zum auferlegten Optimierungszwang. Heute ist das Smartphone der Handspiegel, den wir jederzeit zücken können, um uns unserer selbst zu vergewissern.
Bis ins 19. Jahrhundert war der Spiegel ein Luxusgut, das Aristokraten vorbehalten war. Ludwig der XIV ließ in Versailles seine berühmte Spiegelgalerie errichten. Dort sorgten über 300 Spiegel für die illusorische Vervielfältigung der absolutistischen Pracht. Bis heute gilt der Spiegel als Medium der Täuschung, aber auch der Wahrhaftigkeit. Nicht umsonst spricht man davon, dass man jemanden einen Spiegel vorhält, und meint damit, dass man ihm zur Selbsterkenntnis verhilft. Selbsterkenntnis, Selbsterschaffung, oder Selbstzerstörung? Diagonal fragt das Spieglein an der Wand.

Service

Alice Miller, "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst", Suhrkamp Verlag
Donald W. Winnicott, "Vom Spiel zur Kreativität", Verlag Klett-Cotta
Norbert Haas (Hrsg), "Jaques Lacan. Schriften I", übersetzt von R.Gasché, N.Haas, K.Laermann und P.Stehlin, Quadriga Verlag (antiquarisch)
Rolf Haubl, "Unter lauter Spiegelbildern. Zur Kulturgeschichte des Spiegels", Stroemfeld Verlag
Alexandra Millner, Studie "Spiegelwelten/Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, Adolf Muschg, Thomas Bernhard und Albert Drach", New Academic Press (antiquarisch)

Unteres Belvedere
Ausstellung "Die andere Seite. Spiegel und Spiegelungen in der zeitgenössischen Kunst", Orangerie, 18. Juni bis 12. Oktober 2014

Aus rechtlichen Gründen kann "Diagonals feiner Musiksalon" nicht zum Download angeboten werden.

Sendereihe

• Diagonal