Zwischenruf

von Oberkirchenrat Johannes Wittich (Wien)

"Reif für's Leben"

Nun ist sie also wieder geschafft, die letzte Hürde der Schulzeit: Die Reifeprüfung oder Matura. Als evangelischer Pfarrer bin ich gleichzeitig auch Religionslehrer und konnte dadurch in den letzten Wochen wieder eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern bei diesem letzten Schritt ihrer Zeit im Gymnasium begleiten. Eine Situation, die immer wieder berührend ist: Denn schließlich ist die Matura auch ein Ritual, ein Augenblick, in dem Grundsätzliches über das, was unser Leben ausmacht, vermittelt wird: Herausforderung und Bewährung. Nicht unbedingt immer als angenehm empfunden von den Beteiligten, aber unverzichtbar, da mit Ritualen ein grundmenschliches Bedürfnis abgedeckt wird: Bestimmte Lebenszeiten brauchen einen rituellen Abschluss und gleichzeitig, ebenso in einem Ritual verankert, das Öffnen der Tür in einen neuen Lebensabschnitt. Ein klassischer Übergangsritus, ein rite de passage also.

Nun mag man einwenden, die Matura sei doch eine Prüfung und da ginge es um Leistungen, abgerufen und dann bewertet. Mag stimmen, aber eben nicht nur. Prüfungen erleben Schülerinnen und Schüler auch vorher - und werden mit ziemlicher Sicherheit auch später sich Prüfungssituationen stellen müssen. Theoretisch wäre es ja auch möglich, einem die Berechtigung, eine Universität zu besuchen, schon mit dem positiven Zeugnis der Abschlussklasse zuzusprechen. So wie jedes Jahr, mit der Zeugnisverteilung in der letzten Schulstunde, vielleicht ein paar freundliche Worte von einem Lehrer dazu, und dann, mit dem Läuten, wäre alles Notwendige getan.

Würde das geschehen, würden Schülerinnen und Schüler ganz sicher etwas vermissen - geht es doch bei der Matura, besonders bei der mündlichen, auch um die Präsentation dessen, was man selbst ist, wie man sich selbst sieht, und wie man gerne gesehen werden möchte. Dass der "Stoff" irgendwann einmal gelernt worden ist, kann mit dem Abschluss der achten Klasse wohl als vorausgesetzt angenommen werden. Aber dass eigenständig mit den zur Verfügung gestellten Inhalten oder auch den geübten Fähigkeiten umgegangen werden kann und wie das ganz persönlich getan wird, das ist doch das, was bei der Matura gezeigt werden will. Das gibt der Matura ihren Sinn - und macht sie zu einem Abenteuer, auf das man sich dann auch gerne einlässt.

Anders gesagt: Ich sehe die Reifeprüfung nicht als Abschluss, sondern als Beginn. Nicht als Zumutung sondern als ein Ereignis, bei dem dem Kandidaten, der Kandidatin vermittelt wird: Wir trauen dir etwas zu. Wir geben dir eine Plattform zu zeigen, wer du bist. Einen Moment, bei dem eigentlich nicht auf deine Leistung, sondern auf dein Potential geschaut wird. Potential, das bei jedem Menschen vorhanden ist, manchmal aber auch "herausgekitzelt" werden muss.

Eine so verstandene - und, wie ich es seit Jahren erlebe, in vielen Fällen auch genau so gehandhabte Matura hat für mich auch eine religiöse Dimension. Auch wenn das auf den ersten Blick nicht so erkennbar sein mag. Matura als Darstellung des Möglichen, als Beginn, nicht als Abschluss, erinnert mich an den 31. Psalm, wo ein Mensch von Gott sagt: Du stellst mich auf weiten Raum. Gott als Garant für das Potential, das in mir steckt und die vielen Möglichkeiten, die ich habe. Die Matura gibt diesem Potential eine Bühne.

Gelingende Rituale - und die Matura ist, wie gesagt, ein Ritual - sind letztlich unverfügbar, entziehen sich unserer menschlichen Kontrolle. Wenn ich die Matura als so eine Türe in die Zukunft verstehe, wo ich modellhaft zeigen darf, wie ich denken, gestalten, argumentieren, ja auch schon Verantwortung übernehmen kann, dann muss dieser Vorgang ein offener bleiben. Die Pannen mit der Zentralmatura sind natürlich zunächst einmal organisatorischer und bürokratischer Natur. Ich frage mich aber schon, ob nicht das grundsätzliche Problem hinter der Zentralmatura ein bestimmtes Verständnis von diesem "letzten Akt der Schulzeit" ist. Oder genauer: Ein bestimmtes Menschenbild, in dem eben Menschen an dem was sie wissen und können gemessen werden, und nicht auf das geschaut wird, wer sie sind und vor allem: was sie noch alles werden können.

Als Lehrer möchte ich auch weiterhin bei der Matura Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, das zu präsentieren, was ich bei ihnen bereits schon entdecken durfte. Das mag manch einen Bildungsbürokraten vielleicht nicht interessieren. Das mag vielleicht auch die Gefahr der Willkür in sich bergen. Nur: Menschen lassen sich nun einmal nicht standardisieren. Letztlich auch nicht in Zahlenwerten von eins bis fünf messen. Und daher wünsche ich mir bei der Matura auch weiterhin frei gestaltete inspirierende und inspirierte Momente. Die deutlich machen: Es geht nicht um einen Abschluss. Es geht um einen Anfang. Kreativ und selbstbestimmt gestaltet. Von einzigartigen, unverwechselbaren Menschen, die sich, zum Glück, jeglicher Standardisierung entziehen.

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