Gedanken für den Tag

2. Juli 2014, 06:56

Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt.
(...)
Und irgendwo gehen Löwen noch und wissen,
solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht.

Unerhört, nicht wahr? Dieser Gedanke in Rainer Maria Rilke Gedicht. Diese Idee, ein herrlicher Löwe sein zu können, einig mit allem, Herr über alles, nicht herrschend, sondern wissend, im vollkommenen Einklang mit sich selbst und der Welt. Vielleicht mit anderen zum Löwen zu werden. Einig zu sein, zu einer gemeinsamen Mitte zu finden und die Ohnmacht nicht mehr zu spüren.

Seltsam, traurig mutet es an, dass wir da, wo wir das Gespräch suchen, oft im Widerspruch landen. Es scheint, als ob das Wort nicht dazu geschaffen wäre, uns zu einen. Ja, Zugvögel brauchen die Worte nicht. Sie sind bereits verständigt, müssen nicht verhandeln, schon gar nicht diskutieren. Aber wir? Wir sind uneins. Und vielleicht liegt gerade darin unsere große Chance. Eng ist unser Denken, wenn wir meinen, uns entscheiden zu müssen - zwischen diesem und jenem, zwischen ja oder nein, links oder rechts, oder im besten Fall für einen Kompromiss, der uns auf eine Linie bringt.

Haben wir vergessen, dass die Urform menschlicher Gespräche nicht die Linie, nicht der Pingpongtisch ist, sondern der Kreis? Eine Form, die viele Perspektiven zulässt, ein ganzes Gefäß an Blickwinkeln und Geschichten - und eine Mitte, auf die sich alles bezieht. Wir müssen dem Anderen nichts entgegensetzen. Es reicht fürs erste, sich gegenüber zu setzen. Da, wo ein Kreis eine Mitte umspannt, erleben wir, was es heißt, zu kommunizieren. Und zu wissen: Es wird immer eine unerhörte, eine andere Stimme geben, einen Wind, der unsere Flügel erfrischt und uns in neue, ungeahnte Höhen steigen lässt.

Service

CD, Ulrich Reinthaller, "Rilke. Duineser Elegien I - V", ORF

Dialogikum Phönixberg 2014

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