Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" - Zum 100. Todestag des Dichters Georg Trakl. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal."

Das Gedicht "Menschheit" ist für mich das aufregendste und außergewöhnlichste der dreizehn Gedichte, in denen Georg Trakl mit dem Bildpotenzial von Brot und Wein arbeitet und das Abendmahl, die Eucharistie aufgreift. Feuersschlünde, Trommelwirbel, Krieger, Blutnebel - das ganze Inferno des 20. Jahrhunderts ist anwesend in diesem Gedicht. Entgegengesetzt ist ihm nur das durchbrechende Licht des Abendmahls und der Satz: "Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen." Dieses Schweigen wird zum einzigen Gegengewicht gegen den Kriegslärm. Ich kenne keinen religiösen Text, der Brot und Wein eine solche Kraft zutraut und so augenfällig zeigt, welche Verheißung darin liegt.

Immer, wenn ich die Trakl-Gedichte lese, die Brot und Wein in Szene setzen, geht mir etwas Neues auf an der großen christlichen Eucharistie-Tradition, auch wenn ich weiß, dass das Symbol Brot und Wein bei Trakl nicht nur mit Messe und Abendmahl zusammenhängt, sondern auch mit Hölderlins großer Hymne "Brod und Wein". Wie Trakl das Brechen des Brotes und das Austeilen des Weines in eine einfache Bauernstube verlegt oder in dem bekannten Gedicht "Ein Winterabend" einem eintretenden Wanderer Brot und Wein "in reiner Helle" glänzen lässt, das sprengt den kirchlichen Ritus und rettet sein Hoffnungspotenzial herüber in eine nachreligiöse Zeit.

Service

Werke von Georg Trakl:

Sämtliche Gedichte. Insel Verlag 2014

Das dichterische Werk. Deutscher Taschenbuch Verlag

Werke, Entwürfe, Briefe. Hrsg. v. Georg-Hans Kemper und Frank R. Max. Reclam Verlag


Werke über Georg Trakl:

Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie. Otto Müller Verlag 2014

Rüdiger Görner: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Paul Zsolnay Verlag 2014


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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Zbigniew Preisner/geb.1955
Gesamttitel: ELISA / Original Filmmusik
Titel: Nocturne II/instr.
Solist/Solistin: Konrad Mastylo /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Philips 5267502

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