Gedanken für den Tag

von Martin Ploderer, Schauspieler. "In Wahrheit, Freiheit und Schönheit". Gestaltung: Alexandra Mantler

Hans Christian Andersen illustriert in seinem weltbekannten Märchen "Des Kaisers neue Kleider" die Problematik der Wahrheit in behutsamer und damit besonders eindringlicher Weise. Die Wahrheit ist eine Sache, über sie zu sprechen, sie zu beschreiben, zu bezeichnen, also gewissermaßen zu behaupten, eine andere. Als Außenstehender, der das Märchen zum ersten Mal hört oder es auch schon auswendig kennt, weiß man, dass der Kaiser nackt ist. Die im Märchen vorkommenden Menschen wissen es eigentlich auch, aber ein schlauer Mensch, der weniger ihre Dummheit als vielmehr ihre Eitelkeit missbraucht, hat sie dazu gebracht, dass keiner sich traut, die Wahrheit auch zu sagen! Vielmehr herrscht ein stillschweigender Konsens darüber, dass man mit der Lüge weniger zu befürchten hätte, als mit der Wahrheit. Es ist die Angst, die hier ihre Macht demonstriert. Nur ein Mensch lässt sich davon nicht beeindrucken: ein kleines Kind, das mit all den Verwirrungen der hochintellektuellen Erwachsenenwelt nichts anfangen kann. Ohne Angst vor dem, was irgendein anderer vielleicht denken oder sagen wird, platzt es mit der Wahrheit heraus: "Der hat ja gar nichts an!"

Also, kann der Satz: "Es gibt keine Wahrheit" wahr sein? Ich glaube nicht. Da ich in diesem Märchen so absolut nicht betroffen bin und von außen hineinschauen kann ohne etwas befürchten zu müssen, freue ich mich mit dem kleinen Kind, dass ich die Wahrheit erkennen und gedanklich auch aussprechen kann. Aber jetzt mache ich einen Schritt hinein in das Märchen, werde ein Teil der Menge. Bin ich dann immer noch so mutig? Und wie soll man bei all dem Geplapper dieser Menge überhaupt so etwas wie Wahrheit heraushören können? Ich habe nur eine einzige verlässliche Quelle, das ist mein Herz. Und wenn ich dieses Herz in diesem Augenblick über all das Geschwätz und alle anderen inneren und äußeren Stimmen, denen ich pausenlos ausgesetzt bin, herausheben kann, dann habe ich einen Zugang zur Wahrheit. Ob ich dann noch den Mut aufbringe, sie auch klar und eindeutig auszusprechen, das steht auf einem anderen Blatt...

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Franz Schubert
Titel: Sonate für Violine und Klavier in g-moll DV 408
* Menuetto - 3.Satz (00:02:38)
Solist/Solistin: Arthur Grumiaux /Violine
Solist/Solistin: Robert Veyron Lacroix /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Philips 426385-2

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