Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Leiterin des Wiener Dommuseums. "Verletzbarer Meister des Plakativen" - Zum 150. Geburtstag von Henri de Toulouse Lautrec. Gestaltung: Alexandra Mantler

Wie kann man mit wenigen Strichen und lediglich drei Farben - schwarz, weiß und blau - so viel aussagen? Das frage ich mich angesichts einer der bekanntesten Zeichnungen des französischen Künstlers Henri de Toulouse-Lautrec. Die Darstellung, deren Original im Museé Toulouse-Lautrec-Museum in Albi beheimatet ist, zeigt eine Frau im Profil. Sie sitzt an einem Kaffeehaustisch, das Kinn aufgestützt. Der Blick geht ins Leere. Vor ihr stehen eine Flasche und ein Glas. Diese Tusche- und Kreidezeichnung mit dem Titel "Die Trinkerin" wird immer wieder als Symbol der existentiellen Not des verarmten und resignierten Großstadtmenschen zu Ende des 19. Jahrhunderts gedeutet, dem letztendlich kein anderes Los als der Weg in die Sucht bleibt.

Ich konnte mich mit der Deutung dieser ausdrucksstarken Zeichnung nie wirklich anfreunden. Denn was ich hier vor mir sehe, ist eine würdevolle und starke Frau, die ganz bei sich ist. Ein wenig nachdenklich und melancholisch vielleicht, aber keineswegs verloren.

Sicherlich fließt in meine Betrachtungsweise ein, dass ich weiß, wer dem Maler für dieses Blatt Modell saß. Es ist Suzanne Valadon, die Toulouse-Lautrec hier porträtiert hat. Der Künstler hatte eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu der unangepassten Frau, die dramatisch zu Ende ging.

Die frühere Trapezkünstlerin war eines der beliebtesten Modelle der Pariser Kunstszene. Schließlich avancierte sie als Autodidaktin selbst zur herausragenden Avantgarde-Malerin, die mit ihren Frauendarstellungen und ihrer unkonventionellen Biografie zum Vorbild für viele nachfolgende Künstlerinnen wurde. Toulouse-Lautrec soll derjenige gewesen sein, der ihr Zeichentalent als erster erkannte und sie ermutigte, einen Künstlernamen anzunehmen.

Suzanne Valadon und Toulouse-Lautrec hatten auf ganz unterschiedliche Weise kein leichtes Leben. Beide haben aber in dem kreativen Ausdruck eine Möglichkeit gesehen, dem Rätsel des menschlichen Daseins näherzukommen. In all seiner Vielfalt. Mit all seinen Licht- und Schattenseiten. So meinte Suzanne Valadon, Malen bedeute für sie, "einen Augenblick des Lebens in seiner ganzen Bewegtheit und Intensität zu erhaschen."

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: G. Auric
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: J. Laruel
Titel: Moulin rouge
Album: IHRE GROßEN CHANSONS
Solist/Solistin: Juliette Greco /Gesang
Länge: 02:00 min
Label: Philips 838 429-2

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