Gedanken für den Tag

18. Dezember 2014, 06:56

Dienstagabend hat Chanukka begonnen, das jüdische Lichterfest, das vom 17. bis 24. Dezember dauert. Aus diesem Anlass möchte ich Ihnen heute den zweiten Teil der Erzählung "Etwas Süßes für die schwere Reis'" von Frederic Morton vorlesen. Ihm, dem gebürtigen Fritz Mandelbaum und seiner Familie, gelang in letzter Sekunde die Flucht aus Wien.

"Am frühen Morgen brachen wir auf. Wir stahlen uns vom Haus zum Taxi, das um die Ecke wartete. Der Zug, der uns ins Exil bringen würde, fuhr zu Mittag. Auf einmal tauchte die Hausbesorgerin auf. Plötzlich war sie an meiner Seite. Sie löste meine wunden Hände von den Koffern und hievte diese selbst zum Taxi. Dann zog sie etwas aus der Falte ihrer Schürze, warf es mir zu und zischelte: "Da, was Süßes für die schwere Reis'", bevor die Taxitür mit einem dumpfen Schlag meine Kindheit wegsperrte.

In meiner Handfläche lag eine Packung Mannerschnitten.

Heute überblicken meine Fenster einen amerikanischen Fluss. Aber immer noch versuche ich, diesen Hudson in die Alte Donau zu verwandeln, die zu den Streicherklängen von Franz Lehar wogt. Jeden Nachmittag um Vier setze ich mich zu einer Jause an den Riverside Drive und begehe ein Ritual, das selbst im heimatlichen Hernals ausstirbt: In meine Kaffeetasse tunke ich Mannerschnitten, die es jetzt auch in den Geschäften am Broadway gibt. Aber alle Schnitten schmecken, als wären sie aus der Packung von unserer Hausbesorgerin. Ich bin nämlich noch immer auf einer schweren Reis und brauche etwas Süßes."

Service

Buch, Frederic Morton, "Etwas Süßes für die schwere Reis'", aus: Hubert Christian Ehalt (Hg.), "Ich stamme aus Wien", Bibliothek der Provinz

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