Zwischenruf

von Martin Schenk (Wien)

Die Welt verloren

Man kann seinen Schlüssel verlieren oder seine Brille, aber die Welt verlieren? Und doch: Manche Menschen haben eine Wunde zugefügt bekommen, so tief, dass die ganze Welt darin verschwindet. Wunde heißt griechisch Trauma.

Wenn es um schreckliche Dinge geht, schaut man einmal schnell hin, sucht den Thrill, die Angstlust. Hier geht es um Schreckliches. Tod und Verletzung, Attentate, Enthauptungen, Folter und Krieg, Syrien und Nordirak. Man schaut kurz hin, so wie man es aushält. Wenn es zu arg ist, kann man auch wieder wegschauen. Diese Dinge sind "aus der Welt". Sie sind aufnehmbar, weil sie auf Papier und am Schirm in unsere Welt kommen.

Wie im Film, sagte man zueinander nach dem 11. September in New York. Im Film ist das Schreckliche erträglich aufgehoben. Am 11.September wurde aber nicht der Film Wirklichkeit, sondern die schreckliche Wirklichkeit konnte vom Film nicht mehr gebannt werden. So viel Realität ist real kaum zumutbar.

Ich habe zwei Jahre in einem Gesundheitszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende in Wien gearbeitet. Die Wucht der Geschichten und der Verwundungen sind eigentlich nicht auszuhalten. Eine Welt, die es gibt und bei der man zweifeln will, dass es sie geben kann.
In Spionagefilme und Hollywooddramen kommt Folter zur Erpressung von Geständnissen und geheimen Informationen vor. Das blendet aber die zentrale Richtung von Folter aus: den Menschen als Person zu brechen und seine Würde, seine Beziehungen, seine Zukunft zu vernichten. Das erlittene Trauma lässt eine massive Verletzung zurück. "Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt", schrieb der von den Nazis 1943 gefolterte Jean Amery, und weiter: "Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert." Das Vertrauen in die Welt ist verloren. Eine Todeserfahrung, ohne wirklich tot zu sein.

Es ist schwer, dafür eine Sprache zu finden. Eine Ahnung davon, was das Gefühl, verloren zu gehen, die Welt zu verlieren, sein könnte, gibt uns Jan Philipp Reemtsma, der von Erpressern dreißig Tage in einem Keller gefangen gehalten wurde. Seine Aufzeichnungen beschreiben eine total ver-rückte Welt. "Alles ist wie es war, nur passt es mit mir nicht mehr zusammen. Als trüge ich eine Brille, die alles einen halben Zentimeter nach links oder rechts verschiebt. Ich kann nichts mehr greifen, der Tritt fasst die Stufe nicht mehr. Oder als seien die Oberflächen der Dinge leicht gebogen, als würde nichts mehr Halt finden, das ich hinstellen möchte. Welt und ich passen nicht mehr."

Die Überzeugung bricht zusammen, man könne sich in der Welt sicher fühlen. Das mit dem Trauma Erlebte ist so grausam oder absurd, dass im bisherigen Weltbild kein Platz dafür vorgesehen war. Zugleich ist es jedoch zu massiv, um es ignorieren zu können.

Sie verlieren den Boden unter den Füßen, den Stand in der Welt. Es ist nicht allein eine tiefe Erschütterung, es ist vielmehr ein völliges Wegbrechen. Es ist das Gefühl, verloren zu gehen, den Kontakt mit der umgebenden Welt zu verlieren. Wie aus der Welt gefallen zu sein. Wie die Welt verloren zu haben.

Man könne sich an alles gewöhnen, heißt es. Zum Gewöhnen gibt es hier nichts. Kein aus dem Unglück Auftauchen wie aus einem Albtraum, den man unter der morgendlichen Dusche abwaschen kann. Für die Opfer von traumatischen Geschehen ist nicht nur der Moment des Ereignisses, sondern auch das Heraustreten aus dem Ereignis traumatisch. Das Überleben selbst ist eine Krise. Nach der Flucht in erste Sicherheit scheinen die Gefühle eingekapselt, das Schreckliche eingefroren, die Betroffenen wirken apathisch. Erst nach einiger Zeit bricht das Entsetzliche auf. Die Geretteten erwachen mit Trauer, Schmerz, Verwirrung. Viktor Frankl hat das mit der Erkrankung eines Tauchers verglichen, der zu rasch aus der Tiefe zurückkommt.

Das extreme Trauma ist ein Wirklichkeit gewordener Albtraum. Bei den Opfern der Attentate von Paris oder Nigeria, den Flüchtlingen aus dem Nordirak oder aus Syrien, - und bei den Männern, Frauen und Kindern, die bei uns Zuflucht suchen.

Man kann seinen Schlüssel verlieren, seine Brille - manche aber die ganze Welt.

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