Gedanken für den Tag

von Hubert Gaisbauer, Publizist. "Barfuß nach Gottosten" - Zum 70. Todestag der Dichterin Else Lasker-Schüler. Gestaltung: Alexandra Mantler

EIN HERZ BARFUSS

Else Lasker-Schüler, die von Karl Kraus höher als sämtliche deutschen, österreichischen und Schweizer Literaten geschätzt wurde, liebte es, ihr poetisches Ich exotisch zu verkleiden. Sie unterschrieb ihre Briefe mit "Tino, Prinzessin von Bagdad", oder mit "Blauer Jaguar", am häufigsten mit "Jussuf, Prinz von Theben". In welcher Verkleidung sie auch aufgetreten war: immer war sie ganz Ich, immer hat sie ihr bloßes Herz in Händen getragen. An einen Freund schrieb sie einmal: "Ich glaube, so hat Niemand sein Herz barfuß gehen lassen durch die Menge..."

Dem Vater ihrer Großmutter, dem Rabbi Hirsch Cohen, den sie zum "Oberrabbuni vom Rheinland und Westfalen" erhob, dichtete sie die Eigenschaft an, er habe sein Herz aus der Brust nehmen können, was er nach kühnen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblatts wieder nach Gottosten zu stellen.

In den letzten Lebenstagen, da Else Lasker-Schüler wie eine Verlorene durch die Straßen Jerusalems irrte, sollen ihr Zweifel gekommen sein, ob die zitternde Nadel ihres Herzens noch immer nach Gottosten zeigt. In einem ihrer frühesten Gedichte findet sich - ganz selbstverständlich und sendungsbewusst - die Zeile: "Ich habe Liebe in die Welt gebracht". Tragisch ist ihr im Alter bewusst geworden, dass in der Einsamkeit des Exils Misstrauen ihre Liebesfähigkeit besiegt hat. In einem ihrer letzten Briefe schreibt sie: "Liebe und Freundschaft sind Hände. Meine eigenen gebrochen." Kurz vor ihrem Tod hat sie einen Freund ganz plötzlich und in einem Zustand unbeschreiblicher Zerrüttung gefragt, was denn eigentlich die Liebe sei. Der Freund erwiderte spontan: Die Verwirklichung des Unmöglichen. Diese Antwort habe sie getröstet und ein plötzliches Leuchten auf ihr verstörtes Gesicht gezaubert.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Gesamttitel: KINDERSZENEN OP.15 - 13 Stücke für Klavier
Titel: Fast zu ernst op.15 Nr.10
Solist/Solistin: Christian Favre /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Claves CD 508906

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