Zwischenruf

von Pfarrer Michael Chalupka (Wien)

Schuldenschnitt

Der Finanzminister Deutschlands, Wolfgang Schäuble, ist bekennender evangelischer Christ. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er vor einigen Jahren über seinen Glauben: "Ich glaube, dass wir nicht aus eigener Macht heraus leben. Das Alte wie das Neue Testament ist voll von fundamentalen Menschheitserfahrungen, Sie können sie als Finanzminister jeden Tag brauchen: den Tanz ums Goldene Kalb, den Turmbau zu Babel, die Maßlosigkeit der Menschen, die in ihrer Idiotie sich selbst zerstören."

Derzeit ist Wolfgang Schäuble "fassungslos und empört" - wieder einmal über die Griechen, genauer über ihren Finanzminister Varoufakis, der nach der Einigung mit der Eurogruppe über die Fortführung des Rettungsschirms für Griechenland erneut davon gesprochen hat, dass Griechenland statt weiterer Kredite und Sparauflagen, die Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit und ins Elend geführt hätten, einen Erlass der das Land erdrückenden Schulden brauchen würde, einen neuerlichen Schuldenschnitt.

Wolfgang Schäuble ist nicht der einzige, der fassungslos und empört ist. Derzeit wird von der Politik viel moralisiert. Die Griechen hätten über ihre Verhältnisse gelebt, Schulden müssten zurückgezahlt werden. Sie sollten dankbar sein und nicht so frech.

In einem ist Wolfgang Schäuble Recht zu geben: "Das Alte wie das Neue Testament ist voll von fundamentalen Menschheitserfahrungen." Und eine dieser für Judentum und Christentum zentralen Erfahrung lautet: Verschuldung kann in die Knechtschaft und ins Elend führen. Unbarmherziges Eintreiben der Schulden kann die Existenz gefährden. Deshalb kennt die Tora das Instrument des Erlassens von Schulden und das Neue Testament die Bitte um den Erlass der Schuld, wie Christinnen und Christen sie in jedem Gottesdienst beten: "Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."

Unser Leben, menschliches Leben überhaupt, ist nur möglich, weil es Vergebung von Schuld gibt. "Könnten wir einander nicht vergeben", schreibt die jüdische Philosophin Hannah Arendt, "das heißt, uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würde, im Guten wie im Bösen."

Wo es um Schuld in einem moralischen Sinne geht, erscheint uns das sehr plausibel. Und so verstehen wir die Vater-Unser-Bitte "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" meist moralisch. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt heißt es aber: "Erlass uns unsere Schulden, wie wir denen alles erlassen, die uns etwas schulden." Im griechischen Urtext ist eindeutig von finanziellen Schulden die Rede. Aber die Vergebung von Schuld hat sich in der Geschichte Europas und des Christentums oft von der Vergebung von Schulden, dem Erlassen finanzieller Verpflichtungen gelöst.

Das Alte Testament sieht in seiner Sozialgesetzgebung alle sieben Jahre einen Schuldenerlass vor. Er war nicht bloß eine moralische Anweisung. Er wurde tatsächlich praktiziert, vom 7. bis ins 1. Jahrhundert vor Christus, also über mehr als 600 Jahre. Ich glaube, dass der Zeitraum von sieben Jahren eine Erfahrungsweisheit gewesen ist. Wenn ich mehrere Jahre einen Notkredit nicht zurückzahlen kann - und immer weitere Summen aufnehmen muss, wie soll ich jemals herauskommen aus dieser Spirale, aus dieser Falle? Schuldenerlass ist also Teil der Sozialgesetzgebung und dient dazu, einen neuen Anfang zu setzen. Schuldenerlass ist Armutsbekämpfung, ist Errettung aus der Verelendung, der sozialen Katastrophe. Im 5. Buch Mose steht: "Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen. Und der Zweck dieses Schuldenerlasses ist es, dass es nur ja keine Armen unter euch gebe."

Ja, "das Alte wie das Neue Testament ist voll von fundamentalen Menschheitserfahrungen" wie Wolfgang Schäuble richtig sagte: "Sie können sie als Finanzminister jeden Tag brauchen." Doch der Gebrauch dieser Erfahrungen kann auch unangenehm sein, wenn er den eigenen Interessen, den Interessen der Banken und Gläubiger widerspricht. Der Erlass von Schulden, die Vergebung von Schuld ist biblisch geboten, wenn die Schulden Existenzen zerstören, Menschen in die Knechschaft und ins Elend führen. Da ist die Bibel klar.

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