Gedanken für den Tag

von Anna Mitgutsch, Schriftstellerin. "Ich will noch fortleben nach meinem Tode" - Zum 70. Todestag von Anne Frank. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Wer wird später diese Briefe lesen?", fragt Anne Frank in ihrem Tagebuch und an anderer Stelle steht wie ein Aufschrei: "Ich will fortleben nach meinem Tod." Und tatsächlich gibt es nur wenige Zeugnisse der Shoah, die in den Jahrzehnten seither eine solche Breitenwirkung erfahren haben wie das Tagebuch der Anne Frank.

Niemals vergessen, das Motto der Redner zu Anlässen des Holocaust-Gedenkens ist einerseits ein wichtiger Aufruf zur Erinnerungskultur, notwendiger Widerstand gegen das viel zu oft gehörte Argument, jetzt sei es endlich genug. Andererseits sollte es der Ermahnung, nicht zu vergessen, gar nicht bedürfen. Denn was uns gehört, was zu uns gehört, das vergessen wir schon nicht. Der Tod geliebter Menschen, die Katastrophen und die Höhepunkte unseres Lebens bleiben uns gegenwärtig, ohne dass man uns ermahnen muss, sie nicht zu vergessen. Erinnerung hat mit Identifikation und emotionaler Nähe zu tun. Nur das Fremde, dem wir gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen, sind wir versucht zu vergessen.

Anne Franks Briefe an ihre imaginierte Freundin Kitty schaffen bei ihren Lesern dieses starke gefühlsmäßige Engagement, so, dass sie das Gelesene zu ihrer eigenen Erfahrung machen können, dass sie mitleiden, mitfühlen, sich einfühlen können. Denn Erinnern ohne innere Anteilnahme ist wertlos. Erinnern bedeutet verinnerlichen und vergegenwärtigen, etwas zur eigenen Sache machen.

"Erinnern sollt ihr euch, als sei es euch geschehen", heißt es in der Pessach-Erzählung über den Auszug der Israeliten aus Ägypten. "Je suis Charlie", hat man allerorts sehen, lesen und hören können. Es wäre schön, wenn mit ähnlicher einhelliger Identifikation der Ermordung von Juden und Jüdinnen gedacht würde.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Gesamttitel: Drei Romanzen für Klarinette und Klavier op.94
Titel: Nr.1 : Nicht schnell
Solist/Solistin: Gervase de Peyer /Klarinette
Solist/Solistin: Gwenneth Pryor /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8506

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