Gedanken für den Tag

13. April 2015, 06:56

desir-manque

"Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand."

So Rainer Maria Rilke im Stundenbuch. "Geh bis an deiner Sehnsucht Rand": Rilke berührt mit dem Wort Sehnsucht die Tiefen unseres Lebens. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan sieht es ähnlich, wenn er den Menschen als Wesen des "désir" begreift. Sehnsucht, die nicht in Raum und Zeit passt, die maßlos ist. Und das in Liebe, in Arbeit und Amüsement.

Lacan fügt dann aber dem désir ein manque bei: eine Entbehrung, einen Mangel. Wir hinken hinter unserer Sehnsucht nach. Auch der Theologe Karl Rahner spricht von der Erfahrung, dass die Rechnungen immer offen bleiben. Wir seien immer nach mehr aus, als stattfindet. Als Menschen erleben wir uns also eingespannt zwischen maßloser Sehnsucht einerseits und stets nur mäßiger Erfüllung auf der anderen Seite.

Besteht nicht wahre Lebenskunst darin, mit dieser Spannung schöpferisch umzugehen? Die Lebenskünstler unterscheiden sich allerdings in unserer weltanschaulich verbunteten Welt diesbezüglich beträchtlich. Eine Schlüsselfrage ist: Wie viel Zeit habe ich für die Stillung meiner Sehnsucht? Nur dieses Leben? Eine ganze Ewigkeit? Muss ich nach maßlosem Glück in mäßiger Zeit streben? Oder hab ich dafür maßlos Zeit?

Ich will in den nächsten Tagen ein paar mögliche Wege bedenken. Nur einer Spur werde ich nicht folgen: der Ermäßigung der Sehnsucht. Die Weite des Traums weicht in einem solchen Fall der Enge der Realität. Diesbezüglich halte ich es jedoch mit der großen Poetin Marie von Ebner Eschenbach: "Nicht jene sind zu bedauern, deren Träume nicht in Erfüllung gehen, sondern die, die keine mehr haben."

Service

Buch, Rainer Maria Rilke, "Das Stundenbuch", Insel Taschenbuch

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler