Zwischenruf
von Superintendent Olivier Dantine (Innsbruck)
21. Juni 2015, 06:55
"Ich möchte vor allem als Mensch wahrgenommen werden und mich über mich selbst definieren, nicht über meine Herkunft oder darüber, dass ich ein Flüchtling bin. Stell dir vor, wir würden alle auf einem anderen Planeten landen, wir würden ja auch nicht sagen, ich bin aus Afghanistan oder aus Wien oder aus Somalia, sondern: Wir sind Menschen und kommen von der Erde."
Das sagt Hossein, der vor 7 Jahren als 17-Jähriger vor der Gewalt in Afghanistan nach Österreich geflohen ist, und seither als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich lebt. Mich bewegt diese Aussage sehr. Hossein macht deutlich, dass in all den Diskussionen über die Flüchtlingspolitik und die Unterbringung von Flüchtlingen oft eines vergessen wird: Es geht nicht um Zahlen und Quoten, es geht nicht um Flüchtlingsströme, sondern es geht um Menschen. Menschen mit ihren Schicksalen, aber eben auch Menschen, die sich danach sehnen, nicht nur in ihrer Not wahrgenommen zu werden und schon gar nicht als ein zu lösendes Problem, sondern auch darin, welchen Beitrag sie in die Aufnahmeländer einbringen können und auch wollen.
Stattdessen beherrscht in Österreich das Unterbringungsproblem die Debatte. Freilich: Die zu erwartenden Zahlen an Asylanträgen ist eine große Herausforderung. 70.000 sollen es im Jahr 2015 werden. Das ist eine hohe Zahl, keine Frage. Dabei muss aber auch gesagt werden: Im Vergleich zu anderen Krisenjahren, etwa die direkte Nachkriegszeit, die Jahre 1956 mit dem Ungarnaufstand oder 1968 mit dem Prager Frühling, ist auch diese Zahl noch lange keine Rekordzahl. Trotzdem werden die Flüchtlinge als Bedrohung wahrgenommen. Liegt es vielleicht gerade am in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Wohlstand in unserem Land? Je mehr Menschen besitzen, umso mehr fürchten sie, den Wohlstand zu verlieren und sozial abzusteigen. Oder liegt es auch daran, dass, seit ich das Flüchtlingsthema verfolge, und das sind etwa 25 Jahre, dieses Thema vor allem als Sicherheitsproblem dargestellt wird? Wem lange genug eingeredet wird, dass die Herausforderung in der Flüchtlingspolitik darin besteht, die von Flüchtlingen ausgehende potenzielle Bedrohung zu kontrollieren, der wird sich vor Flüchtlingen auch fürchten. Je mehr Flüchtlinge in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt werden, umso mehr wächst die Angst vor ihnen. Nur auf den ersten Blick ist dieser Zusammenhang paradox.
Ein großer Teil des derzeitigen Problems, die Flüchtlinge in unserem Land unterzubringen, ist genau in dieser jahrzehntelang herangezüchteten Furcht begründet. Finden sich beherzte Menschen, die leerstehende Häuser, Hotels und Pensionen, Pfarrhäuser für Flüchtlinge öffnen wollen, ist sehr oft ein Aufschrei der Nachbarn oder auch von Bürgermeistern die Folge.
Es braucht also mehreres zur Lösung des Unterbringungsproblems. Diakonie, Caritas und andere NGOs haben Vorschläge auf den Tisch gelegt, wie etwa die Beschleunigung von Umwidmungsverfahren von Bundesgebäuden. Es ist ja nicht so, dass es keine leerstehenden Gebäude in Österreich gibt. Weiters wird wohl der Anreiz vergrößert werden müssen, Flüchtlinge unterzubringen, dafür müsste der Staat mehr Geld in die Hand nehmen.
Das andere ist aber, damit anzufangen, Flüchtlinge mit anderen Augen zu sehen. Das ist etwas, was jeder und jede kann. Der gestrige Weltflüchtlingstag, der jedes Jahr am 20. Juni begangen wird, ist ein guter Anlass dafür. Der Weltflüchtlingstag soll das Augenmerk auch auf aktuelle Zahlen und Entwicklungen lenken, viel mehr noch aber auf die Flüchtlinge selbst, ihr Schicksal, ihre Wünsche und Perspektiven. Zu uns kommen Menschen, nicht weil sie uns etwas wegnehmen wollen, sondern weil sie entweder vor Todesgefahr geflohen sind, oder in ihrem Heimatland völlig perspektivlos sind. Bei uns sind Menschen, die sich eine Zukunft in Sicherheit und Frieden wünschen, Menschen, die sich auch gerne in unsere Gesellschaft einbringen würden, wenn man sie nur ließe.
Ein Anfang hin zu diesem neuen Blick auf Flüchtlinge wäre der Wunsch, den Hossein aus Afghanistan formuliert hat, zu beherzigen. Er möchte als Mensch wahrgenommen werden. Ist das wirklich so schwierig?